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Die gefährlichste Grenze der Welt

Fabian Kretschmer16. März 2016

Während die Lage in Korea extrem angespannt ist, gehen die Bewohner entlang der innerkoreanischen Grenze ihrem Alltag nach. Eine Reportage von der Insel Ganghwa, nur einen Steinwurf von Nordkorea entfernt.

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Strand mit Stachedrat und Wachtürmen auf der nordkroeanischen Insel Ganghwa (Foto: F. Kretschmer)
Bild: DW/F. Kretschmer

"Einer der furchteinflößendsten Orte der Welt." So soll der ehemalige US-Präsident Bill Clinton die innerkoreanische Grenze beschrieben haben, als er sie in den 1990er-Jahren besuchte. Der Südkoreaner Baek Seung-hyeon, militärischer Kurzhaarschnitt, hochgekrempelte Fleecejacke, nennt genau diesen Ort seine Heimat. Auf dem der koreanischen Halbinsel westlich vorgelagerten Eiland Ganghwa, nur wenige Kilometer vom nordkoreanischen Festland entfernt, betreibt der 42-Jährige einen kleinen Donut-Laden. Angesprochen auf die derzeitigen Spannungen zwischen den verfeindeten Nachbarstaaten erwidert er lapidar: "Für mich ist das vor allem eine Frage des Umsatzes." Bei nordkoreanischen Raketentests blieben schlicht die Touristen aus.

Im Alltag hingegen würde er nur selten spüren, entlang einer militärisch hochgerüsteten Grenze zu leben. Nur die regelmäßigen Militärkontrollen erinnerten ihn daran. "Ich bin ja quasi im Kriegszustand aufgewachsen", sagt der Gastronom: "Wenn ich jetzt an die Teilung des Landes denke, empfinde ich nichts dabei. Es ist einfach ganz normal."

Über 300.000 Soldaten proben für den Ernstfall

Zwischen 1950 und 1953 standen sich der kommunistische Norden und der kapitalistische Süden in einem blutigen Konflikt gegenüber, bei dem allein über vier Millionen Zivilisten starben. Technisch gesehen dauert der Koreakrieg bis zum heutigen Tage an, denn ein Friedensvertrag wurde bislang nicht unterzeichnet. Alle paar Monate drängt der latente Konflikt zwischen Nord und Süd mit Warnschüssen und Kriegsrhetorik in das Bewusstsein der Weltöffentlichkeit.

Das südkoreanische Friedensobservatorium an der Grenze zu Nordkorea (Foto: F. Kretschmer)
Das Friedensobservatorium an der Grenze ermöglicht Blicke in den abgeschotteten NordenBild: DW/F. Kretschmer

Dieser Tage steuern die Spannungen auf einen erneuten Höhepunkt zu: Erst am Dienstag (15.03.2016) kündigte Diktator Kim Jong Un an, "in kürzester Zeit" eine weitere Atombombe testen zu wollen. Auf den letzten Kernwaffentest im Januar reagierten die UN mit den schärfsten Sanktionen, die seit über 20 Jahren gegen ein Land verhängt wurden. Letzten Montag (14.03.2016) begannen die gemeinsamen Militärübungen südlich der Grenze: 17.000 US-Soldaten proben mit über 300.000 südkoreanischen Soldaten für den Ernstfall. So viele waren es noch nie.

Abstumpfung angesichts der ständigen Bedrohung

Auf der verschlafenen Insel Ganghwa ist von dieser Ausnahmesituation jedoch wenig zu spüren: Zugvögel fliegen über nebelverhangene Reisfelder, die von kleinen Ziegeldachhütten gesäumt werden. An den Kreuzungen tratschen ältere Frauen. Der Geruch von verbranntem Laub liegt in der Luft. Doch die Normalität wird gestört: Entlang der Küste ist der Strand mit Wachtürmen und Stacheldrahtzaun gesichert (Artikelbild).

Während Leitartikler von Washington bis nach Berlin von einem drohenden Krieg schreiben, begegnen die Südkoreaner dem Konflikt scheinbar mit Ignoranz. Der Koreanist Brian R. Myers vergleicht die Situation mit einem Damoklesschwert, das seit Jahrzehnten über den Köpfen der Koreaner kreist: "Irgendwann lernt man mit der Bedrohung zu leben und tut so, als ob sie gar nicht da ist."

Traurigkeit statt Sorge

Auch Herr Hwang ist nicht besorgt, dass der Konflikt vor der eigenen Haustür wirklich einmal in einem Krieg eskalieren könnte. "Wenn man hier wohnt, lebt man keinesfalls in ständiger Angst", sagt der 66-Jährige. Vor allem empfinde er Trauer bei dem Gedanken, dass nur wenige Kilometer nördlich die Leute in Unfreiheit und Armut leben müssen. Viele der heutigen Inselbewohner seien ehemalige Flüchtlinge, die sich während der Wirren des Koreakriegs auf Ganghwa niedergelassen haben. Auch wenn sie seit mehr als 70 Jahren ihre Heimat nicht mehr besuchen können, sind sie ihr hier jedoch möglichst nah.

Grüne und weiße Zettel mit den Wünschen der Besucher des Friedensobservatoriums (Foto: F. Kretschmer)
Im Friedensobservatorium hinterlassen Besucher ihre WünscheBild: DW/F. Kretschmer

Wie nah, das demonstriert Herr Hwang jeden Tag aufs Neue. Sein Beruf ist es, Besucher durch das "Friedensobservatorium" von Ganghwa zu führen. Im fünften Stock können seine Landesgenossen tun, was ihnen sonst verwehrt ist: Nordkorea mit den eigenen Augen sehen. Gerodete, ockerfarbene Hügel zeichnen sich am Horizont ab, dazwischen kleine Dörfer aus Lehmhütten. Schulkinder bummeln über die Wege. Im Frühjahr können die Besucher beobachten, wie Bauern mit Ochsenkarren ihre Felder bestellen.

Wünsche für die Zukunft

Eine Siedlung sticht jedoch durch ihre modernen, mehrstöckigen Häuser hervor. Allerdings ist dort nie ein Mensch zu sehen. Es soll sich um eines von mehreren Propagandadörfern an der Grenze handeln, die nach dem Koreakrieg errichtet wurden, um die Überlegenheit des eigenen Systems zu propagieren und die Südkoreaner zur Flucht in den Norden zu animieren. Bis in die 1970er-Jahre galt der Norden als wirtschaftlich führend im Vergleich zum bitterarmen Süden. Mittlerweile erreicht Kim Jong Uns totalitär geführter Staat kaum mehr ein Vierzigstel des südkoreanischen Bruttosozialprodukts.

Im Erdgeschoss des Ganghwa-Observatoriums haben Besucher auf tausenden kleinen Zetteln ihre Wünsche für eine baldige Wiedervereinigung formuliert. "Ich will endlich in die Heimat meiner Eltern", steht auf einer Nachricht geschrieben: "Mein Vater konnte sie nicht mehr besuchen, als er noch am Leben war. Wenn wir wiedervereinigt sind, werde ich das für ihn tun."