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Das Ruder herumreißen

Monika Dittrich10. Mai 2013

Vor einem Jahr konnte sich jeder dritte Deutsche vorstellen, die Piraten zu wählen. Inzwischen liegt die Partei in Umfragen bei drei Prozent. Doch die Spitzenkandidatin für NRW kämpft um ein Bundestagsmandat.

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Melanie Kalkowski, die NRW-Spitzenkandidatin der Piratenpartei für die Bundestagswahl. (Foto: DW/Monika Dittrich)
Bild: DW/M.Dittrich

Abends hat Melanie Kalkowski manchmal Ohrgeräusche. Wenn sie wieder Wahlkampf gemacht hat für ihre Piratenpartei und den ganzen Tag lang gehört hat, wie ihre Parteifreunde aus langen, orangefarbenen Luftballons Piratensäbel knoten. "Diese Säbel sind wirklich der Renner, nicht nur bei Kindern", erzählt Melanie Kalkowski begeistert. "Wenn das Ballonknoten nur nicht so quietschen würde."

Auch an diesem Vormittag ist das Quietschen nicht zu überhören. Die örtliche Piratenpartei hat ihren Wahlkampfstand in Recklinghausen im Ruhrgebiet aufgebaut und Melanie Kalkowski verteilt Broschüren und Postkarten. Sie versucht, mit den Passanten ins Gespräch zu kommen. Manche bleiben stehen und plaudern mit ihr, andere huschen nur schnell vorbei. "Mir macht es Freude, auf Leute zuzugehen", sagt sie. "Das fällt mir wirklich nicht schwer."

Frau, Mutter, Finanzbeamtin

Melanie Kalkowski ist Spitzenkandidatin der nordrhein-westfälischen Piratenpartei für die Bundestagswahl. Sie hat den Listenplatz Nummer eins, das bedeutet, wenn die Piraten es im Herbst über die Fünf-Prozent-Hürde schaffen, dann gehört sie aller Voraussicht nach zur ersten Piratenfraktion im Deutschen Bundestag. "Ich freue mich auf den Wahlkampf, obwohl es schon jetzt ganz schön anstrengend ist."

Melanie Kalkowski, die NRW-Spitzenkandidatin der Piratenpartei für die Bundestagswahl, verteilt Flyer. (Foto: DW/Monika Dittrich)
Ihre Chancen? Nicht schlecht, glaubt Melanie KalkowskiBild: DW/M.Dittrich

Manch einer stellt sich den typischen Piraten vielleicht als computerfanatischen Technik-Freak vor, der den ganzen Tag auf seinen Bildschirm starrt und Kontakte nur via Internet pflegt. Melanie Kalkowski passt nicht in dieses Bild. 35 Jahre ist sie alt, Finanzbeamtin, verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Sie twittert gelegentlich, aber: "Ein Internet-Nerd bin ich nicht." Im Interview spricht sie druckreife Sätze. Und erzählt, dass manch einer überrascht sei, wenn sie bei Veranstaltungen im dunklen Hosenanzug auftritt.

Weder rechts noch links, sondern progressiv

"Viele sind erstaunt, dass ich mit meiner Vita und meinem Beruf bei den Piraten bin. Aber diese Vielfalt macht uns ja gerade aus", sagt Melanie Kalkowski. Vor zwei Jahren ist sie der Piratenpartei beigetreten, weil sie sich angesprochen fühlte von dieser neuen und anderen Art, Politik zu machen. "Wir sind gegen das Schubladendenken, wir sind eben nicht rechts oder links, sondern progressiv", so Kalkowski.

Piratenparteien gibt es inzwischen in rund 70 Ländern rund um den Globus, doch nirgendwo waren sie bisher so erfolgreich wie in Deutschland. Mittlerweile sind sie in vier Landesparlamenten mit insgesamt 45 Abgeordneten vertreten. Ihr Markenkern ist die Netzpolitik: Sie streiten für Freiheit im Internet und Datenschutz, aber auch für mehr Transparenz in Behörden und Regierungen und bessere Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung, vor allem durch das Internet. Einige politische Forderungen wie das bedingungslose Grundeinkommen oder das kostenlose Bus- und Straßenbahnfahren entsprechen eher linken Konzepten.

In den vergangenen beiden Jahren erlebte die Partei einen beispiellosen Aufstieg. Mehr als 30.000 Mitglieder hat sie mittlerweile, noch vor einem Jahr konnte sich fast jeder dritte Deutsche vorstellen, einmal die Piraten zu wählen. "Das war ein richtiger Hype", sagt Oskar Niedermayer, Politikwissenschaftler an der Freien Universität Berlin. "Es wurde sehr positiv über die Piraten berichtet, auch weil sie neu und anders waren, da wurde auch viel hineinprojiziert."

Flyer der Piraten am Wahlkampfstand. (Foto: DW/Monika Dittrich)
Vor lauter Streit gelingt es den Piraten kaum noch, ihre Inhalte zu vermittelnBild: DW/M.Dittrich

"Kümmern sich nur um die Egos ihrer Protagonisten"

Als Parteienforscher hat Oskar Niedermayer den Aufstieg der Piraten untersucht, derzeit beobachtet er die Krise der Partei: "Die Piraten melden sich kaum noch inhaltlich zu Wort, sie fallen nur noch durch Personalquerelen und Streitigkeiten auf." In den Umfragen sind die Piraten auf drei Prozent abgesackt.

"In anderen Parteien gibt es zwar auch Querelen", so Niedermayer. "Doch bei den Piraten werden diese Streitigkeiten durch das Transparenzgebot in die Öffentlichkeit getragen, und dann entsteht der Eindruck, dass sich diese Partei nur noch um die Egos ihrer Protagonisten kümmert statt um Inhalte".

Chaotische Basisdemokratie

Fraktionssitzungen und andere Treffen übertragen die Piraten via Livestream im Internet und auch sonst werden persönliche Meinungsverschiedenheiten gern per Facebook oder Twitter ausgetragen. Und gestritten wurde zuletzt viel: Zwei Vorstandsmitglieder traten im Herbst zurück; und der politische Geschäftsführer Johannes Ponader wird beim Parteitag am kommenden Wochenende (10.-12.05.2013) sein Amt zur Verfügung stellen. Ohnehin hat der Vorstand eine schwierige Stellung, denn er soll nur verwaltende Funktion haben - hierarchische Strukturen lehnen die Piraten ab.

Obendrein fehlt den Piraten in vielen Bereichen das inhaltliche Profil: Zu harten Themen wie Außen- und Sicherheitspolitik oder Wirtschaft und Finanzen haben sie bislang nur wenig zu sagen. Parteitage, Fraktionssitzungen und andere Veranstaltungen wirken oft chaotisch und undiszipliniert. NRW-Spitzenkandidatin Melanie Kalkowski sieht darin allerdings auch eine Stärke ihrer Partei: "Basisdemokratie ist anstrengend. Sie kostet manchmal Zeit und Kraft, aber es lohnt sich."

Pläne für den Bundestag

Melanie Kalkowski am Wahlkampfstand in Recklinghausen. (Foto: DW/Monika Dittrich)
Melanie Kalkowski am Wahlkampfstand in RecklinghausenBild: DW/M.Dittrich

Am Recklinghausener Wahlkampfstand ist sie jetzt ins Gespräch gekommen mit einem Passanten. Es geht um ihr Lieblingsthema, die Bestechlichkeit von Politikern. "Ich bin entsetzt, dass in Deutschland die Abgeordnetenbestechung noch gar nicht strafbar ist." Der Mann im Rollstuhl nickt interessiert und blättert in der Piratenbroschüre. Sollte sie im Herbst in den Bundestag gewählt werden, dann werde sie sich stark machen für Antikorruptionsgesetze und ein Lobbyregister, erzählt Melanie Kalkowski.

Ihre Chancen schätzt sie gar nicht so schlecht ein - trotz der miesen Umfragewerte. Und selbst wenn die Piraten es diesmal nicht in den Bundestag schaffen - von der politischen Bildfläche werden sie ihrer Ansicht nach nicht mehr verschwinden. "Wir sind mehr als eine Partei, wir sind eine Bewegung. Uns wird es immer geben."