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Gefahr für laizistische Grundordnung der Türkei

Baha Güngör15. November 2003

Die Anschläge von Istanbul machen erneut deutlich, dass kein Land sicher vor dem Terrorismus ist. Dennoch sind die Angriffe gerade für die Türkei eine Bedrohung der Bemühungen um eine Koexistenz von Islam und Demokratie.

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"Selbst Schlangen lassen betende Menschen in Ruhe", lautet eine der Weisheiten gläubiger Türken. So betrachtet sind die Verantwortlichen für die Anschläge gegen zwei Synagogen in Istanbul mit betenden Juden niederträchtiger als Schlangen und haben somit nur nach äußerem Erscheinungsbild eine Gemeinsamkeit mit Menschen. Es kann keine Rechtfertigung und auch kein Verständnis für die Gewaltakte geben, die diesmal zwei jüdische Gotteshäuser am Bosporus zerstörten.

Welche Organisation hinter den Anschlägen tatsächlich steckt, ist offen. Dass abermals verschiedene Gruppen miteinander wetteifern, um die Verantwortung zu übernehmen, ist noch eine Steigerung der Blasphemie. Fest steht, dass Fanatiker und Extremisten durchaus in der Lage sind, wie überall in der Welt auch in der Türkei Infernos zu veranstalten.

Unbegreiflicher Fanatismus

Es ist nicht zu ergründen, welcher Fanatismus Menschen dazu bringen kann, anderen Menschen Leid zuzufügen und dabei auch Gebetsstätten nicht zu verschonen. Die Gewaltbereitschaft macht inzwischen auch vor Hilfeorganisationen und nach Frieden suchenden zivilen Gruppen, wie zuletzt in Irak erlebt, nicht halt. Symbole wie das Rote Kreuz oder Roter Halbmond auf Fahrzeugen oder Transportfahrzeuge mit der Aufschrift UN bieten längst nicht mehr eine Garantie dafür, von Bomben, Granaten oder Kugelhagel verschont zu bleiben.

Dass sich die Türkei schon längst im Visier des internationalen Terrorismus befindet, ist kein Geheimnis. Bemüht sich das Land doch seit 80 Jahren um eine Koexistenz von Islam und Demokratie und sieht sich damit als Modell für Länder mit islamischer Bevölkerung. Umso tiefer sitzt der Schock in den Reihen der mit großer Mehrheit alleine regierenden islamistischen Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan: Denn der Versuch, die Türkei aus der Schusslinie der Terroristen herauszunehmen, ist endgültig gescheitert.

Mehr als militärischer Schutz notwendig

Wie groß die Gefahr für die laizistische Grundordnung der türkischen Republik tatsächlich ist, sollte jetzt deutlicher als je zuvor in den Vordergrund gerückt werden. Das NATO-Land mit direkten Grenzen zu den brennenden Konfliktherden des Nahen Ostens bedarf mehr als nur des militärischen Schutzes und des verbalen Beistands durch den Westen.

Spätestens jetzt, angesichts der Terroranschläge von Istanbul, erweisen sich die konkrete Anbindung der Türkei an Europa und die Verankerung von europäischen Werten und Normen in der türkischen Gesellschaft als unaufschiebbare Notwendigkeit. Wer Werte und Normen zeitgenössischer Zivilisationen nur für das Christentum beansprucht, handelt wider das biblische Gebot, das Liebe für den Nächsten vorschreibt.

Türkei muss an Europa herangeführt werden

Wer jetzt noch die Heranführung der Türkei an Europa aus religiösen und kulturellen Gründen blockiert und darüber hinaus seine Ablehnung als Argument in Wahlkämpfen ins Feld führt, handelt verantwortungslos. Die türkischen Anstrengungen zur Erfüllung der europäischen Erwartungen im Zusammenhang mit Menschenrechten, Minderheitenschutz, Demokratisierung und wirtschaftlichen Fortschritten müssen kritisch begleitet und unterstützt werden - hierzu gibt es keine Alternative.