1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Ein Warnsignal für Europäer

Bulgarien l Politologe Ivan Krastev
Ivan Krastev
9. November 2020

Die dramatischen Ereignisse in den USA zeigen, in welche Richtung sich Europa in Zukunft entwickeln könnte - aber auch, wo die Unterschiede liegen, meint der bulgarische Politikwissenschaftler Ivan Krastev.

https://p.dw.com/p/3l1H8
USA Die Wähler von Morgen: Kinder auf dem US-Wahlkampf
Bild: Edgard Garrido/Reuters

Wenn es um US-amerikanische Politik geht, glauben die meisten Europäer, der Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten und Europa ähnele dem zwischen europäischem Fußball und American Football. Wie American Football folgt auch die US-amerikanische Demokratie ihren eigenen Regeln. Das Wahlsystem, bei dem der Kandidat mit weniger Stimmen mühelos Präsident werden kann, ergibt für Amerikaner wahrscheinlich viel Sinn, für alle anderen nicht. Aber allen Unterschieden zum Trotz sind einige Lektionen der US-Präsidentschaftswahl für Europa sehr relevant.

In dem 1972 uraufgeführten Theaterstück "Jumpers" schrieb der britische Dramatiker Tom Stoppard schelmisch: "Nicht das Wählen ist Demokratie, sondern die Auszählung." Die diesjährige Präsidentschaftswahl in den USA gibt ihm Recht.

Demokratie ist im Kern ein System, bei dem der Verlierer das Wahlergebnis legitimiert, indem er seine Niederlage akzeptiert. US-Präsident Donald Trumps Angriffe auf die Objektivität der Wahl schaden nicht nur dem Ruf der USA, sie sind wahrscheinlich auch ein Vorzeichen dessen, was uns in Zukunft erwartet: Eine Zunahme angefochtener Wahlen - nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern auch andernorts.

Demokratie schützt nicht vor Spaltung

In politisch gespaltenen Staaten sehen die Anhänger einer Partei die größte Gefahr für die Demokratie nicht im Bruch etablierter Regeln, sondern im Sieg der gegnerischen Partei. Und bei vielen nimmt die Bereitschaft zu, das System selbst zu zerstören, um zu verhindern, dass die andere Seite an die Macht kommt. In einem solchen Umfeld laufen unparteiische Institutionen wie Gerichte, Zentralbanken oder die freien Medien Gefahr, politisch instrumentalisiert zu werden.

Die Wahl in den USA hat auch gezeigt, dass der Schock und die Verluste durch die Corona-Krise eher das Potenzial haben, bereits bestehende Gräben zu vertiefen, als zu mehr nationaler Einheit und kollektiven Zielen zu führen - selbst in den von der Pandemie am stärksten betroffenen Gesellschaften. Eine Analyse der Nachrichtenagentur Associated Press (AP) ergab, dass in den 376 Landkreisen mit den meisten Neuinfektionen pro Kopf eine überwältigende Mehrheit von 93 Prozent Trump gewählt hat.

Bulgarien l Politologe Ivan Krastev
Ivan Krastev, bulgarischer Politologe und Autor des DW-GastkommentarsBild: Nadezhda Chipeva

Europäer sollten die Ereignisse in den USA als Warnung verstehen: Wenn Lockdowns verlängert werden und die Wirtschaft heruntergefahren wird, könnten unsere Gesellschaften anfangen, dem explosiven Durcheinander zu ähneln, das wir gerade in den Vereinigten Staaten beobachten.

Während Demokratie oft für ihre geniale Fähigkeit gelobt wird, Gräben in modernen Gesellschaften zu überbrücken, hat die Erfahrung der vergangenen vier Jahre in den USA gezeigt, dass demokratische Politik auch Spaltung verfestigen und verschärfen kann. Die Wahl hat offenbart, dass Demokraten und Republikaner nicht einfach nur zwei Parteien sind - vielmehr sind sie zu zwei unterschiedlichen Ländern geworden, die sich im Wahlkrieg miteinander befinden. Und dieser politische Krieg wird nicht mit Trumps Niederlage enden.

Bevölkerungsstruktur als Schlüsselfaktor

Europäer können aus der Erfahrung der USA auch lernen, dass die Zusammensetzung der Bevölkerung in der Politik oft eine entscheidende Rolle spielt. Zahlen sind wichtig. Wenn sich die Zahlen ändern, wechselt die Macht von einer Hand in die andere.

Das demokratische Narrativ betonte lange: Der Wahlsieg hängt davon ab, dass Wähler ihre Meinung ändern. Aber Machtverhältnisse können auch auf den Kopf gestellt werden, wenn sich die Wählerschaft verändert. Das passiert, wenn eine neue Generation mit starken kollektiven Vorlieben mündig wird, wie es etwa in den westlichen Demokratien in den 1960er und 1970er Jahren der Fall war. Es kann auch passieren, wenn eine große Gruppe neuer Wähler den politischen Diskurs umgestaltet. Das geschah in vielen Ländern, nachdem das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde oder große Migrantengruppen eingewandert waren. Joe Bidens beeindruckendes Abschneiden lässt sich eher mit demografischen Veränderungen in Staaten wie Arizona und Georgia erklären als mit einem Sinneswandel bei den Wählern.

Es ist also nicht überraschend, dass viele nationalistische Parteien die wachsende Wahl an Migranten in ihren Ländern nicht nur als wirtschaftliche oder kulturelle, sondern auch als politische Bedrohung wahrnehmen. Die ethnischen Mehrheiten, die sich davor fürchten, in ihrem eigenen Land zu Minderheiten zu werden, bleiben die wichtigsten Unterstützer nationalistischer Populisten sowohl in den USA als auch in Europa.

Der europäische Parlamentarismus ist institutionell besser ausgestattet, um einer extremen politischen Polarisierung zu widerstehen. Doch das Beispiel Polen zeigt uns, dass er nicht unbedingt eine überzeugende Abwehr dagegen ist. Europäische Demokratien werden sich mit dieser amerikanischen Art der Polarisierung infizieren, wenn wir keinen Weg finden, die wachsende Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen denen mit und ohne akademische Bildung, zwischen den politischen Vorlieben von Jung und Alt zu überbrücken.

Die Welt vor Trump gibt es nicht mehr

Die US-amerikanische Erfahrung könnte auch darauf hinweisen, dass eine neue, progressive Generation, von der die Mehrheit für Joe Biden gestimmt hat, bereit sein könnte, die Gesellschaft von der Geißel des Populismus zu befreien. Aber wenn es um das politische Versprechen einer jungen Generation geht, sollten Europäer sich davor hüten, den amerikanischen Traum pauschal zu übernehmen.

In Europa ist der Bevölkerungsanteil der Unter-30-Jährigen viel kleiner als in den USA. Eine Studie des Centre for the Future of Democracy der Universität Cambridge zeigte kürzlich, dass jüngere Generationen überall auf der Welt stetig unzufriedener mit der Demokratie geworden sind - und zwar nicht nur in absoluten Zahlen, sondern auch im Verhältnis zu den Ansichten, die ältere Generationen zu einem vergleichbaren Zeitpunkt in ihrem Leben hatten. Und nur, weil jemand für Joe Biden gestimmt hat, heißt das nicht, dass diese Person automatisch immun für die Reize eines populistischen Mehrheitsprinzips ist - insbesondere, wenn dieses von der politischen Linken kommt.

Es wird noch dauern, bis offiziell festgestellt ist, dass Joe Biden der nächste US-amerikanische Präsident ist, und wahrscheinlich werden wir nicht vor Mitte Januar erfahren, wer den Senat kontrollieren wird. Aber selbst, wenn sich das optimistischste Szenario bewahrheitet, wäre es falsch, wenn Europäer sich in Zukunft auf dieselbe Weise auf die USA verließen, wie sie es viele jahrzehntelang taten. Dass ein Demokrat wieder im Weißen Haus ist, bedeutet nicht, dass die Welt wieder ist, wie sie es vor Trump war.

Europäer hatten allen Grund zu befürchten, dass die Zerstörung der Europäischen Union auf der Agenda einer zweiten Trump-Amtszeit stehen könnte. Nun, da diese Gefahr gebannt scheint, wäre es falsch, darauf zu warten, dass Biden uns sagt, was er von Europa erwartet. Es ist Zeit, dass Europa nach Washington geht und eine Vision zur Zukunft der transatlantischen Partnerschaft präsentiert - eine Vision auf Grundlage der veränderten Realitäten auf beiden Seiten des Atlantiks.

Ivan Krastev ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies, einer im bulgarischen Sofia ansässigen Nichtregierungsorganisation, und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen (IWM) in Wien.

Adaption: Helena Kaschel