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Deutschlands Kampf gegen das Offensichtliche

Simon Wren-Lewis Universität Oxford
Simon Wren-Lewis
10. Juli 2015

Wie geht es weiter mit Griechenland? Eigentlich ist jedem klar, was getan werden muss. Doch die deutsche Halsstarrigkeit verhindert, dass dem Land tatsächlich geholfen wird, meint der Ökonom Simon Wren-Lewis.

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Griechenland Krise Transparent Finanzministerium in Athen
Bild: Reuters/J.P. Pelissier

Als ich auf kürzlich auf einer Konferenz in Berlin zu Gast war, kam das Gespräch unausweichlich auch auf Griechenland. Ich hörte die nicht enden wollende Geschichte über griechische Inkompetenz und Korruption. Einiges davon ist schlichtweg falsch. Doch was mich wirklich getroffen hat, ist die Ähnlichkeit zur gängigen Erzählweise über Armut: dass sie das Resultat von Charakterschwäche sei, dass finanzielle Hilfen alleine das Problem nicht lösen könnten und dass das Wirtschaftssystem keine Schuld daran trage.

Ein einfacher Punkt wurde in diesen Diskussionen nie erwähnt - zumindest bis ich ihn ansprach: Die Troika [Anm. d. Red.: Internationaler Währungsfonds (IWF), Europäische Zentralbank (EZB) und EU-Kommission] war in den vergangenen vier Jahren für den griechischen Haushalt verantwortlich. Das Ergebnis war ein drakonischer Sparkurs. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) schätzt, dass sich der primäre Haushaltsüberschuss Griechenlands - ein für die Bewertung der Haushaltspolitik übliches Messinstrument - deutlich gesteigert hat. In den vergangenen fünf Jahren hat er sich um einen Betrag erhöht, der nahezu zweimal über dem Wert jedes anderen OECD-Landes liegt. Die Vorstellung, Griechenland habe nicht genug gespart, ist daher einfach lächerlich.

Ein rein deutsches Phänomen

Der Kollaps der griechischen Wirtschaft hat die positive Wirkung der griechischen Sparmaßnahmen jedoch mehr als zunichte gemacht. Das Bruttoinlandprodukt Griechenlands ist um rund 25 Prozent gesunken.

Bei der Bewertung dieser Lage stößt man auf ein scheinbar rein deutsches Phänomen: Fragt man einen Ökonomen außerhalb Deutschlands, warum die griechische Wirtschaft kollabiert ist, macht er mit hoher Wahrscheinlichkeit die Sparpolitik dafür verantwortlich. Dieser Auffassung liegt das keynesianische makroökonomische Modell zugrunde, das rund um die Welt - übrigens auch in Deutschland - gelehrt wird. Zentralbanken nutzen es, um ihre Zinsen festzulegen. Auch die EZB. Das Konzept besagt, dass Sparmaßnahmen für die Wirtschaft eines Landes ohne eigene Geldpolitik kontraktiv wirken. Radikale Sparmaßnahmen sind mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar ruinös für das betroffene Land.

Simon Wren-Lewis Universität Oxford
Simon Wren-LewisBild: privat

Deutschland ist hingegen nahezu die einzige große Nation, in der die keynesianische Sichtweise im wirtschaftspolitischen Diskurs eine Minderheitsmeinung darstellt. Viele Deutsche sprechen von einer "angelsächsischer Wirtschaftslehre", obwohl die meisten Ökonomen außerhalb Deutschlands die Anwendbarkeit der keynesianischen Ideen als allgemeingültig bezeichnen.

Vor diesem Hintergrund hat das griechische Experiment zu einer Auseinandersetzung zwischen der deutschen und der keynesianischen Sichtweise geführt.

Schlechte Medizin

Es scheint, als sei Griechenland ein Patient und die Troika der Arzt. Über vier Jahre hinweg hat der Patient eine vom Arzt verschriebene Medizin eingenommen: eine Mixtur aus Sparmaßnahmen und Strukturreformen. Der Zustand des Patienten hat sich stetig verschlechtert. Statt nun einzugestehen, dass die Medizin unwirksam ist oder in einer viel zu hohen Dosis verabreicht wird, behauptet der Arzt, der Patient nehme die verschriebene Medizin nicht zu sich. Wir wissen hingegen, dass der Patient tatsächlich die gesamte Sparsamkeits-Medizin des Arztes geschluckt hat - und nebenbei auch noch eine Vielzahl von Strukturreformen durchgeführt hat.

Griechenlands Notlage stellt die vorherrschende wirtschaftliche Sichtweise in Deutschland massiv auf die Probe. Doch statt dies einzugestehen hat Deutschland ein Phantasiegebilde konstruiert, in dem einzig die "faulen und korrupten Griechen" Schuld an ihrer Misere tragen. Als Griechenland nun auch noch damit begann, die Medizin infrage zu stellen (mit der Wahl von Syriza), schien es, als wollten die deutschen Politiker den Patienten schlichtweg loswerden. Stichwort: Grexit.

Deutschlands Eigeninteresse als Gläubiger Griechenlands

Das Resultat ist eine aberwitzige Situation: Deutschland lehnt es grundsätzlich ab, auch nur über einen Schuldenschnitt oder eine Umschuldung für Griechenland nachzudenken. Und das, obwohl seine Partner im Internationalen Währungsfonds wissen, dass eine solche Entlastung Griechenlands unvermeidbar ist.

Die deutsche Halsstarrigkeit könnte sich mit seinem Eigeninteresse als Gläubiger begründen lassen. Deutschland muss sich aber im Klaren sein, dass es wohl deutlich weniger Geld zurückbekommt, wenn Griechenland zu einem Austritt aus der Euro-Zone gezwungen wird.

Hin und wieder wird mir erklärt, Deutschland müsse eine harte Linie gegenüber Griechenland fahren, um zu verhindern, dass auch andere Staaten einen Schuldenschnitt fordern. Aber dazu ist es schon nicht gekommen, als die Konditionen für die griechischen Schulden im Jahr 2012 geändert wurden.

"Die Geschichte wird Sie für ihre Taten in dieser Woche in Erinnerung behalten"

Ich befürchte, die deutsche Politik und die öffentliche Meinung werden von dem Wunsch getragen, die ökonomischen Überzeugungen Deutschlands nicht durch den Fall Griechenland hinterfragen zu müssen. Es ist daher offenbar sogar zwangsläufig, dass deutsche Politiker den Bürgern anstelle der Wahrheit lieber erzählen, was diese hören wollen.

Ein großer Staatsmann - oder eine große Staatsfrau - sollte allerdings über das Schmeicheln der Volksseele erhaben sein und alternative Perspektiven erkennen. Es gilt, was ich kürzlich gemeinsam mit vier anderen renommierten Ökonomen in einem offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel geschrieben habe: "Die Geschichte wird Sie für ihre Taten in dieser Woche in Erinnerung behalten."

Simon Wren-Lewis ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Blavatnik School of Government der Oxford University.