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Für Herkules zuviel

Hanno Grieß9. November 2002

Es ist nicht einfach nur ein Parteitag, auf dem ein paar Köpfe rollen werden. China steht vor riesigen Problemen. Nach den Lobeshymnen auf die Alten folgt die Schwerstarbeit für die Neuen.

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Leuchtwerbung steht für FortschrittBild: AP

Auf dem 16. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas werden die Weichen für die nächsten Jahre gestellt. Eine davon: Der geordnete Machtwechsel an der Parteispitze. Es wäre der erste gewaltfreie in der Volksrepublik. Geradezu panisch fürchtet die Partei öffentlichen Aufruhr. Und diese Angst ist berechtigt.

Die chinesische Geschichte ist gezeichnet von Unruhen. Innerhalb eines Jahrhunderts (1845 – 1945) hat das Land fünf Kriege verloren und erlebte mit der so genannten Kulturrevolution und ihren Millionen von Toten den ordnungspolitischen Super-Gau. Nach Maos Tod starb sein designierter Nachfolger Liu Shaoqi im Gefängnis. Sein Konkurrent, der damalige Armeechef Lin Biao, stürzte nach einem Attentatsversuch auf Mao unter mysteriösen Umständen mit dem Flugzeug ab. Deng Xiaoping kam als Reformer erst zum Zug, nachdem er aus der Verbannung zurück geholt worden war. Und Jiang Zemin wurde von Deng nach der blutigen Niederschlagung der Unruhen auf dem Tiananmen-Platz 1989 nach Peking geholt. Ähnliches soll sich jetzt, 13 Jahre später, nicht wiederholen.

Leitmotiv: Stabilität

Der von Deng Xiaoping 1982 eingeleitete Reformkurs mit seinen "vier Modernisierungen" (Landwirtschaft, Industrie, Militär und Wissenschaft) diente vor allem dem Ziel, Normalität zurückzubringen. Als Todfeinde dieser Stabilität galten damals wie heute politische Opposition und Parteienvielfalt. Am Freitag (8.11.02) hat Parteichef Jiang Zemin zur Eröffnung 16. des Parteitages eine Reform des Landes in Richtung einer Mehr-Parteien-Demokratie noch einmal ausgeschlossen. Damit liegt er exakt auf Linie der Tradition.

Tabakernte in China
Die Bauern spüren wenig vom AufschwungBild: AP

Reform heißt auf chinesisch: Veränderungen geschehen Schritt für Schritt. Die KP sei die einzige verlässliche Kraft der Modernisierung – so hämmern es die chinesischen Medien immer wieder in die Köpfe der Bürger. Und so paradox es klingt, sie haben zumindest teilweise Recht. Denn die Partei schafft im Wesentlichen die Voraussetzungen für eine Erneuerung der alten Strukturen: Private Initiativen auf dem Land und die Millionen von kleinen und großen Unternehmen in den boomenden Küstenregionen. Die Einkommenskluft ist enorm. Während die Sonderwirtschaftszonen im Südosten prosperieren, verdient ein Bauer auf dem Land rund einen Dollar pro Tag.

Die Partei, die Partei ...

Die KP will sich auf diesem Parteitag auch für die Reichen öffnen. Auch wenn manche meinen, sie verrate damit ihre Tradition, ist diese Änderung längst überfällig. Denn ihr laufen die Mitglieder davon. Sie ist zwar mit 66,3 Millionen Mitgliedern noch immer die weltweit größte Partei, aber ihre Verankerung in der Bevölkerung ist gering. Gemessen an den 1,3 Milliarden Chinesen beträgt der Anteil der Mitglieder gerade einmal fünf Prozent.

In der Privatwirtschaft konnte sie bisher kaum Fuß fassen: In den ehemaligen Staatsunternehmen ist die KP kaum noch vertreten, in kommunalen Unternehmen fast gar nicht mehr. Die Hälfte der Parteimitglieder auf dem Land sind entweder Analphabeten oder haben nur eine Grundschulausbildung. Und nur wenige sind unter 35 Jahren. Wirksame Parteiarbeit ist so kaum noch möglich.

Einheitliche Lebensverhältnisse Fehlanzeige

Mit den Wirtschaftsreformen steht die Partei vor einer Herkulesaufgabe. Die großen Staatsunternehmen werden nach und nach zerschlagen und privatisiert. Nur haben diese früher die soziale Versorgung gesichert, vom Kindergarten bis zur Rente. Mittlerweile sind nach Expertenschätzungen mehrere Hundert Millionen Menschen arbeitslos - offizielle Zahlen sind nicht sehr glaubwürdig. Ein funktionierendes Sozialsystem gibt es noch nicht, und das heißt, dass diese Menschen völlig ohne Versorgung auskommen müssen.

Viele der neuen Unternehmen zahlen kaum noch Steuern, während gleichzeitig die Kosten für Sozialleistungen explodieren. Die Folge: Chinas Staatsverschuldung liegt mittlerweile bei rund 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Korruption erreicht epidemieartige Ausmaße und macht nach unabhängigen Schätzungen vier Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung aus. Die Dunkelziffer von Bestechung und Diebstahl ist darin noch nicht enthalten. Innerhalb von vier Jahren bis 2002 wurden 780.000 Parteikader unterschiedlichster Positionen der Korruption überführt.

Mut ist gefragt

In dieser Situation ist die Kommunistische Partei heute mehr denn je von der Zustimmung der Bevölkerung abhängig. Der Sozialismus hat als Legitimation schon lange ausgedient. Sie kann langfristig nur überleben, wenn sie die wirtschaftlichen Schwierigkeiten in den Griff bekommt. Sonst drohen soziale Unruhen. Und ein Zerfall wie in der Sowjetunion soll auf jeden Fall vermieden werden. Nicht umsonst hat Jiang Zemin zur Eröffnung des 16. Parteitags eine alte marktwirtschaftliche Weisheit bemüht: "Stillstand ist Rückschritt." Sein Nachfolger wird sich dessen bewusst sein.