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Politik

Ist Japan gegen Individualität?

Julian Ryall
18. November 2017

Eine japanische Schülerin muss ihr von Natur aus helles Haar auf Geheiß ihrer Schule nachdunkeln. Dagegen zog sie vor Gericht. Der Fall zeigt, wie schwer sich das Land schon mit kleinsten Abweichungen von der Norm tut.

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Japan Tokyo japanischen Studenten
Bereit für den Beruf: Japanische Hochschulabsolventen bei ihrer AbschlussfeierBild: picture-alliance/ZUMA Press/y06

Der Nagel, der aus dem Holz will, wird bald wieder eingeschlagen, sagt ein altes japanisches Sprichwort. Dass es sich immer und ausnahmslos so verhält, stellt nun eine Gymnasiastin aus Osaka in Frage.

Die natürliche Haarfarbe der minderjährigen Schülerin ist hellbraun - während die meisten Japaner dunkles schwarzes Haar haben. Als sie im Jahr 2015 in der Stadt Habikino auf eine Schule kam, forderte deren Leitung sie auf, die Haare schwarz zu färben.

Die Schülerin fügte sich der Anordnung. Dann aber bemerkte sie, dass sie ihr Haar alle vier bis fünf Tage neu färben musste, da sonst an der Wurzel schon wieder die natürliche Farbe durchschimmerte. Doch das Färben war nicht nur teuer - es beschädigte auf Dauer auch Haar und Kopfhaut.

Nun wehrt sich die junge Frau vor Gericht gegen die kompromisslose Haltung der Schulleitung. Diese hatte sie mehrfach vom Unterricht ausgeschlossen. Dieser Schritt habe sie psychisch belastet, erklärte die Schülerin nun. Auch sehe sie ihre Menschenrechte nicht gewahrt. Aus diesem Grund fordert sie eine Entschädigung von umgerechnet rund 16.500 Euro.

Als sie wegen ihres Haars ein weiteres Mal getadelt wurde, sei die junge Frau zusammengebrochen und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden, erklärten ihre Anwälte vor Gericht.

Es entbehre nicht einer gewissen Ironie, so die Juristen weiter, dass dieselbe Schule ihren Schülern verbiete, ihre Haare zu färben, zu bleichen oder eine Dauerwelle zu tragen.

Symbolbild Japan Wirtschaft Tod durch Überstunden
Arbeitswelt im Spiegel: Japanische Angestellte in Tokio Bild: Reuters/T. Peter

Strenge Tradition

Bislang beharrt die Schule auf ihrer Position. Unterstützung erhielt sie von Vertretern der Präfektur von Osaka. Die Entscheidung der Schulleitung entspreche geltendem Recht, erklärten sie.

"Traditionell legen japanische Schulen großen Wert auf das Äußere ihrer Schüler", sagt Makoto Watanabe, Professor für Kommunikation und Medien an der Hokkaido Bunkyo Universität. "In einigen Bezirken zum Beispiel bestehen die Schulen darauf, dass sich die männlichen Schüler den Kopf rasieren. Ich bin zwar der Auffassung, dass Disziplin und Schuluniformen wichtig sind. Doch der Fall der Schülerin aus Habikino könnte eine Verletzung der Menschenrechte oder der Meinungsfreiheit eines Individuums darstellen. Das sind genau die Werte, die junge Menschen auf der Schule eigentlich lernen sollten."

Japans Schulen haben ein umfangreiches Regelwerk. So dürfen die Schülerinnen meist weder Schmuck noch Make-up tragen. Die Röcke müssen eine bestimmte Länge haben. Jungen müssen schwarze Socken tragen.

"Wie deprimierte Klone" 

Kritiker meinen, diese strengen Regeln hätten das Ziel, die Schüler zu jener Fügsamkeit zu erziehen, die beim Eintritt in die Berufswelt von ihnen verlangt würde. Denn auch dort warten unzählige Vorschriften auf sie.  

"Ein solches Verhalten ist in allen Teilen der japanischen Gesellschaft und Kultur verankert", sagt Robert Dujarric, Direktor des Instituts für zeitgenössische asiatische Studien an der Temple University in Tokio. Seiner Meinung nach gehe diese Tradition auf das ab den 1860er Jahren eingeführte autoritäre Bildungssystem zurück.

"Wenn Hochschulabsolventen heute zu Bewerbungsgesprächen gehen, tragen sie alle die gleichen Anzüge und haben den gleichen strengen Gesichtsausdruck. Sie wirken wie deprimierte Klone", meint Dujarric."Ganz gleich, welchen Hintergrund ein neuer Mitarbeiter mitbringt, er oder sie wird in die im Unternehmen herrschenden Verhaltensweisen eingewiesen. Das reicht von der Art und Weise, wie man am Telefon spricht bis hin zu einer angemessenen Sitzposition."

Japan Tokio Fußgänger Symbolbild Hektik
Konservative Moderne: Szene aus TokioBild: picture-alliance/dpa/K. Mayama

Einschränkung der Kreativität

"Alles ist kodifiziert und reguliert - aber es schränkt die Initiative und Kreativität der Mitarbeiter ein, so dass sie nicht über den Tellerrand hinaus denken. Das ist in japanischen Unternehmen beinahe verpönt." 

Dieser Ansatz mag in der Vergangenheit funktioniert haben. So weist Dujarric darauf hin, dass japanische Autos, Heimelektronik und unzählige andere Waren als die zuverlässigsten weltweit gelten. Doch mittlerweile bremse die mangelnde Flexibilität die Innovationskraft und ermögliche es konkurrierenden Unternehmen etwa in China, Südkorea und anderswo, ihre japanischen Kollegen zu überholen.

"Ob im Klassenzimmer oder im Unternehmen, ich glaube nicht, dass das strikte Beharren auf altmodischen Regeln in einer Zeit rascher und zunehmender Globalisierung noch angemessen ist", meint auch Watanabe.

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"In Schulen, an Universitäten und in Unternehmen gibt es mehr Ausländer, Menschen mit unterschiedlichem Glauben, mit unterschiedlichen Haaren oder Hautfarben. Das müssen auch die Älteren hinnehmen, die derzeit noch die Entscheidungen treffen."

Im mittleren Management gebe es heute viele Japaner unter 50, die über die Älteren in der oberen Führungsetage frustriert seien. Doch deren Ansehen ist sehr hoch: "Schließlich waren sie es, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit die großen Unternehmen gründeten und auf Wachstumskurs brachten. Darum ist es praktisch unmöglich, sie zu ersetzen", erläutert Watanabe. Den Jüngeren bleibt nichts anderes übrig, als auf die Pensionierung der Älteren zu warten.

"Ich spüre zwar, dass eine Veränderung bevorsteht. Aber noch ist Japan nicht bereit. Die Dinge werden Zeit brauchen", meint Watanabe. Der Fall des Schulmädchens mit den braunen Haaren wird zeigen, ob Japan Individualität akzeptiert. Watanabe selbst ist nicht besonders optimistisch: "Theoretisch sind Gerichte neutral. Aber in der Vergangenheit haben wir gesehen, dass einige Richter durchaus subjektiv urteilten. Auch in diesem Fall dürfte es sich bei den Richtern um ältere, konservative Männer handeln. Ich denke nicht, dass das eine gute Sache ist."