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Furcht vor dem "Raffarindum"

Alexander Kudascheff20. April 2005

In Frankreich wächst die Ablehnung gegen die europäische Verfassung. Das treibt so manchem Brüsseler Spitzenpolitiker Sorgenfalten auf die Stirn. Kluge Notfallpläne gibt es nicht, dafür aber kuriose taktische Manöver.

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Alexander Kudascheff

Die Nervosität ist in Brüssel - und in allen europäischen Kreisen zu greifen. Nicht wegen Barrosos Jachturlaub bei seinem griechischen Milliardärsfreund Latsis. Auch nicht, weil die Ablehnung der Dienstleistungsrichtlinie immer deutlicher wird. Ehrlich gesagt auch nicht, weil der "rote Dany", also Daniel Cohn-Bendit, der inzwischen grün geworden ist, sich wieder einmal als antiautoritärer Typ gezeigt hat - und gegen den Volksmonarchen Franz den Einzigen wettert und stattdessen den französischen Republikaner Michel will.

Darüber kann man ja streiten, ob Beckenbauer oder Platini der nächste europäische Fußballchef werden soll. Ob man für die Grünen im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf allerdings mit einem Plädoyer für Platini Stimmen sammeln kann, ist doch fraglich. Denn selbst die glühendsten Schalke-, Dortmund- oder Bochumanhänger sind eher für den Bayern als für den Franzosen. So weit geht die Liebe zu Europa denn doch nicht.

Junckers Feindbild

Aber, aber, der Ratsvorsitzende Jean Claude Juncker, ein ebenso listiger wie taktisch kluger Politiker, hat ein ganz neues Feindbild entdeckt. Ein neues, oder ein altes, das weiß man nicht so genau. Denn für ihn ist klar: Die USA wollen ein schwaches Europa. Und deswegen setzen sie auf ein Scheitern des französischen Verfassungsreferendums, so Juncker indirekt.

Im Klartext: Washington reibt sich die Hände, wenn Chirac und Co. auf die Nase fallen, die Verfassung von den Franzosen abgelehnt wird? Das scheint doch eine sehr rabulistische Rhetorik zu sein. Vielleicht aber will Juncker etwas ganz anders. Indem er die USA angreift, weckt er wahrscheinlich bei den Franzosen das antiamerikanische Reflexverhalten. Also: Wenn Washington, gar Bush - o la la - die Verfassung torpedieren, dann stimmen wir ganz in der Tradition der Gallier - "die spinnen die Amerikaner" - für die Verfassung. Und oh Wunder: vereint gegen die USA sind die Franzosen für "la constitution".

Die Argumente der Franzosen

Dabei hat die zunehmende Ablehnung der Franzosen gegen die Verfassung eine Menge Gründe: Da ist zum einen der immer ausgeprägte Wunsch der Franzosen zum Protest - gegen die da oben. Da ist zum anderen die Unzufriedenheit mit der Regierung Raffarin - so dass mancher schon einem "Raffarindum" spricht und schreibt. Da ist drittens der Wunsch nach einem sozial gerechten (in einer globalisierten Welt) statt nach einem (angeblich?) neoliberalen Europa. Da ist viertens die Versuchung, dem doch sehr selbstherrlichem Präsidenten Chirac eines auszuwischen. Da ist fünftens die Neigung, jetzt schon Nein zu sagen - zum EU-Beitritt der Türkei. Und - sechstens - da gibt es einen wachsenden Unmut gegen "Europa". Gegen ein Europa der Eliten, die beschließen, ohne sich ums Volk zu kümmern. Die von oben herab dekretieren, was ihnen wichtig erscheint - und jedes Unbehagen, jeden Zweifel gleich als "antieuropäisch" diffamieren.

Die EU der 25 ist nun einmal unübersichtlicher, uneinheitlicher, östlicher geprägt, konkurrierender als die EU der 15. Und die Volksabstimmung über die Verfassung ist eine Chance zu sagen: Stopp. Jetzt sollten wir mal anhalten - und nachdenken, wohin die europäische Reise geht. Und es sieht so aus - als würden die Franzosen den europäischen Zug stoppen. Und das allerschlimmste sind die Brüsseler Notfallpläne (die es natürlich nicht gibt): Sollten die Franzosen "non" sagen, dann gibt es zwar keine Verfassung, aber man könnte sie trotzdem technisch in Kraft setzen. Also so tun, als ginge das "non" niemanden wirklich an. Schließlich hat sich Europa immer so weiter bewegt: als Schildkröte, unberührt von der Kritik der Völker. Ob das allerdings ein Erfolgsmodell der nächsten Jahre ist, bezweifeln inzwischen mehr in Brüssel als die Technokraten wahrhaben wollen.