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Fundgrube Brasilien

Luisa Frey7. Oktober 2013

Global, urban, vernetzt: In der zeitgenössischen Literatur Brasiliens spiegelt sich die aufstrebende, moderne Gesellschaft wider. Weg von exotischen Klischees, hin zu urbanem Leben und individuellen Problemen.

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Frankfurter Buchmesse Brasilien-Stand (11.10.12) Foto: dapd
Bild: dapd

Blühende Kakaobäume, endlose Plantagen und ausbleibender Regen. In der brasilianischen Literatur waren dies lange dominierende Themen. Heute geht es um das zunehmende Verkehrschaos in Megastädten, Sex und Beziehungsprobleme.

Globalisierung und Urbanisierung haben das Leben vieler Brasilianer in den vergangenen 50 Jahren komplett auf den Kopf gestellt. Das Leben auf dem Land kennt nur noch ein kleiner Teil der Bevölkerung. Statt exotischer Szenarien aus vergangenen Zeiten, als Kakao und Kautschuk den Reichtum des Landes ausmachten, nutzen junge Autoren heute pulsierende Großstädte und Einblicke in die menschliche Psyche als Umfeld ihrer Romane.

Neue Suche nach Heimat

"Viele Jahre lang definierte man die brasilianische Identität mit dem Zurückgehen aufs Land, hin zum angeblich so authentisch Brasilianischem", heißt es im Vorwort der 2012er-Ausgabe der britischen Literaturzeitschrift "Granta", in der die "besten Romanautoren Brasiliens" gekürt wurden. Dies habe sich geändert. Die Schriftsteller von heute seien die "Söhne einer blühenderen und offeneren Nation. Sie sind genauso in der Welt zu Hause wie in ihrem Heimatland Brasilien."

Zu den von der Zeitschrift ausgezeichneten Schriftstellern gehören Autoren wie die in Chile geborene Carola Saavedra oder der Newcomer Daniel Galera aus Sao Paulo mit seinem ersten auf Deutsch erschienenen Roman "Flut". Die beiden gehören zu der neuen Generation junger Autoren, die das größte südamerikanische Land auf der Frankfurter Buchmesse neben 70 weiteren Schriftstellern repräsentieren.

Vertreterin der neuen Generation: Carola Saavedra Fotot: Luisa Frey/ DW
Vertreterin der neuen Generation: Carola SaavedraBild: DW/L.Frey

Blick nach Innen

Literaturkritiker Manuel Costa Pinto ist einer der drei Kuratoren der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Pinto beobachtet die brasilianische Literaturszene seit vielen Jahren. "Die Autoren beschäftigen sich eher mit individuellen Erlebnissen in der Großstadt", meint er, "mit Menschen aus der Mittelschicht, die mit ihren eigenen persönlichen Problemen beschäftigt sind". Die Frage der brasilianischen Identität sei in den Hintergrund gerückt.

Auch Beatriz Resende, Professorin an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro, hat beim Thema Nation "eine Art Verweigerung" ausgemacht. "Traditionelle brasilianische Themen wie Politik, Korruption und Gewalt können vorkommen, aber wenn, dann spielen sie sich im städtischen Raum ab", erklärt Resende. Der Fokus liege nicht auf dem Sozialen oder Historischen, sondern eher auf dem Innenleben eines Autors.

Der Blick nach innen ist eines der Hauptcharakteristika der neuen Generation. Oft münden diese in der sogenannten Selbstfiktion: Das eigene Leben wird so zum fiktiven Inhalt der Geschichte. Nachzulesen ist dieses Phänomen beispielsweise in dem Buch "Das ewige Kind" von Cristóvao Tezza. Der Autor und Vater eines Kindes mit Down-Syndrom verarbeitet sein persönliches Schicksal auf seine besondere Art als Schriftsteller.

Alltag statt Ideologie

Gefühlvoll und narzistisch - und damit unpolitisch? Die brasilianische Militärdiktatur (1964 - 1985) und der Kampf für Freiheit und Bürgerrechte ist für die meisten brasilianischen Autoren von heute nur noch aus den Erzählungen ihrer Eltern und Großeltern präsent. Doch dies bedeutet nicht, dass ihre Texte unpolitisch sind. "Über Politik zu schreiben bedeutet nicht, sich mit Ideologien auseinanderzusetzen", meint Literaturkritikerin Resende. Auch die Beschäftigung mit Alltagsproblemen wie Vertreibung oder Diskriminierung könne hoch politisch sein.

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Vom Roman zum Film: Die Stadt Gottes thematisiert Gewalt und Drogen in den Favelas von Rio.Bild: Filmfestival Freiburg (FIFF) 2009

Als Beispiel nennt sie den berühmten Roman „City of God“ (deutsch: "Stadt Gottes"). Das 1997 erschienene Buch von Autor Paulo Lins wurde 2002 verfilmt und 2004 für vier Oscars nominiert. In dem erfolgreichen Film spielen die Brutalität und Gewalt in dem gleichnamigen Armenviertel von Rio de Janeiro, aus dem der Autor stammt, eine zentrale Rolle.

"Die urbanen Themen machen brasilianische Schriftsteller global anschlussfähiger, weil Städte ein Netzwerk für die gemeinsamen weltweiten Probleme bilden", resümiert Kurator Costa Pinto. Luiz Antonio de Assis Brasil, Literaturprofessor an der Katholischen Universität im Bundesstaat Rio Grande do Sul, drückt es noch deutlicher aus: "Zeitgenössische brasilianische Literatur könnte theoretisch von jedem Autor aus der Welt stammen", meint er. Denn die brasilianische Literatur befinde sich im thematischen Einklang mit der weltweiten literatrischen Produktion.