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PolitikAsien

Die verlorene "Glücksinsel"

Martin Fritz
8. März 2021

Der Atomunfall vor zehn Jahren stellte das Leben von Jürgen Oberbäumer in seiner Wahlheimat Fukushima auf den Kopf. Seitdem quält ihn, dass Japan aus der Katastrophe wenig lernen will. Martin Fritz aus Iwaki.

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Deutscher Atomkraftgegner Jürgen Oberhäuser in Japan
Bild: Martin Fritz/DW

"Verlorene Glücksinsel" für Jürgen Oberbäumer

"Schluss mit der Atomkraft, kein Neustart von Reaktoren" skandiert das Grüppchen von Demonstranten vor dem Bahnhof von Iwaki, einer mittelgroßen Stadt 50 Kilometer südlich der zerstörten Atomanlage Fukushima Daiichi. Zu den Atomkraftgegnern, die dort seit Jahren jeden Freitag um 18 Uhr demonstrieren, zählt Jürgen Oberbäumer, der einzige deutsche Zeitzeuge der Tsunami- und Atomkatastrophe am 11. März 2011. "Dieses Ereignis hat mein bescheidenes glückliches Leben beendet und mich aus den Gleisen geworfen", bekennt er. Vor allem habe Japan die Chance verpasst, durch eine Abkehr von der Atomenergie zu einer positiven Kraft für die Welt zu werden. "Darüber bin ich sehr traurig und pessimistisch geworden", sagt der Deutsche.

Vor 35 Jahren ist Oberbäumer als Rucksacktourist in Iwaki aus dem Zug ausgestiegen, ließ sich bei der Unterkunftssuche von einer zufällig getroffenen Japanerin helfen und war sechs Monate später mit ihr verheiratet. Der inzwischen 66-Jährige arbeitet als Englischlehrer und vertreibt deutsches Holzspielzeug an japanische Einzelhändler. Mit seiner Frau wohnt er heute am nördlichen Rand von Iwaki in einem einstöckigen kleinen Mietshaus, die zwei erwachsenen Kinder leben in Deutschland. Aus den bodenhohen Fenstern seines Arbeitszimmers blickt man auf ein weitläufiges Tal, über den kahlen Reisfeldern weht Anfang März noch ein kalter Wind.

"Verlorene Glücksinsel" für Jürgen Oberbäumer

Erzwungener Umzug

Doch der gebürtige Herforder fühlt sich an dieser Stelle nicht heimisch. "Dieses Haus ist sicher schön, aber das andere ist für mich unersetzbar." Damit meint er sein früheres Wohnhaus im traditionell japanischen Stil im nahegelegenen Yotsukura, in dem seine Familie über drei Jahrzehnte lang gelebt hatte. Dort sind die Kinder aufgewachsen, seine Frau verwirklichte sich mit Garten und Gemüsebeeten. "Fukushima bedeutet 'glückliche Insel'. Und das andere Haus war unser persönliches Fukushima", sagt der Deutsche bitter.

Die Tsunami-Wellen blieben wenige Meter vor dem damaligen Grundstück stehen. Auch die Bebenschäden hielten sich in Grenzen. Als das deutsch-japanische Ehepaar nach sieben Wochen Zuflucht in Deutschland wieder in sein japanisches Zuhause zurückkehrte und sich gerade mit den geänderten Umständen in der Region abgefunden hatte, da forderte der Vermieter es zum Auszug auf.

Der Besitzer wollte die Immobilie verkaufen, nachdem Tausende evakuierte AKW-Anwohner in die Städte südlich der 30-Kilometer-Zone gedrängt waren. Die plötzliche Nachfrage nach Wohnraum ließ Mieten und Grundstückspreise in Iwaki explodieren.

Deutscher Atomkraftgegner Jürgen Oberhäuser in Japan
Atomkraftgegner Jürgen OberhäuserBild: Martin Fritz/DW

Vom Lehrer zum Autor

"Einerseits bin ich ein direktes Opfer der Katastrophe, weil unser Leben jahrelang beeinträchtigt wurde", meint Oberbäumer. "Aber ich sehe mich auch als Opfer von anderen Opfern, weil ich durch sie aus meinem kleinen Paradies vertrieben wurde." Zwar erhielt das schockierte Ehepaar eine Schonfrist von zwei Jahren, das geliebte Haus zu verlassen. "Doch es war eine düstere Zeit, in der wir uns wegen der Strahlung kaum nach draußen getraut haben", erinnert er sich. "Wir konnten kein Gemüse anbauen, im Sommer nicht schwimmen und im Herbst nicht in die Wälder gehen."

Während dieser Zeit wurde aus der optimistischen Frohnatur ein nachdenklicher politischer Mensch: "Mit mir ging eine große Veränderung vor." Auf Drängen seines Sohns begann er, das erste von vier Büchern der Reihe "Fukushima - Im Schatten" zu schreiben. Dabei wuchs seine Einsicht, nicht nur ein Opfer zu sein. "Nach langer Reflexion fühle ich mich heute mitverantwortlich, vor allem als gedankenloser Stromkonsument", sagt Oberbäumer. Fukushima sei kein isoliertes Ereignis, sondern ein Menetekel. "In den Explosionen sehe ich die Essenz unseres hochtechnisierten Lebens: Wir treiben Sachen auf die Spitze, sind einfach zu gierig und wollen die versteckten Kosten nicht sehen."

Erdbeben Japan Präfektur Fukushima | Atomkraftwerk Daiichi
Atommeiler Fukushima 2021 - zehn Jahre nach Supergau Bild: Kyodo/REUTERS

Hadern mit japanischer Denkweise

Auch zehn Jahre nach der Katastrophe beschäftigt ihn weiter die Frage, wieso sein weit entferntes Herkunftsland wegen Fukushima aus der Atomkraft aussteigen will, aber seine japanische Wahlheimat die Uranmeiler nachrüstet und weiterlaufen lässt - ausgerechnet in dem Land mit den meisten Erdbeben der Welt. "Zunächst habe ich die Leute für ihren Lebensmut bewundert, dass sie in kurzer Zeit das ganze Tsunami- und Beben-Chaos anpackten", sagt er. Die Menschen in Japan schauen seiner Erfahrung nach am liebsten nach vorne und wollen weitergehen.

Aber ihm will nicht in den Kopf, dass keine Konsequenzen gezogen wurden - der genaue Ablauf der Katastrophe blieb im Dunkeln, die einzigen drei Manager des Betreibers Tepco, die nach langem Tauziehen vor Gericht kamen, wurden freigesprochen. "Warum hinterfragen die Leute nichts? Nicht einmal die Medien?", klagt Oberbäumer. "Diese Kehrseite der Medaille hat mich sehr verbittert."

Natürlich kenne er nach mehr als drei Jahrzehnten die Denkweise der Japaner, beruhigt sich Oberbäumer wieder. Man überlasse schwierige Sachen eben den Spezialisten und schaue nicht über den eigenen Tellerrand. Doch viele Japaner seien obrigkeitsgläubig in einem Maße, das sich ein Europäer nicht vorstellen könne, und akzeptierten die offiziellen Lügen.

Trotz allem will er im Land bleiben. Seine japanische Frau muss sich um ihre hochbetagten Eltern kümmern, er selbst würde in Deutschland in seinem Alter kaum noch Fuß fassen. Also sieht er der harten Wahrheit täglich ins Auge: Die "Glücksinsel", die Fukushima für ihn einmal war, die existiert nicht mehr.