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Der tragische Fall Elisabeth Käsemann

16. Juni 2018

Die Fußball-WM in Argentinien vor 40 Jahren war ein (sport-)politisches Desaster. Die Militärjunta ließ sich feiern und gleichzeitig Tausende Oppositionelle ermorden. Darunter auch die Deutsche Elisabeth Käsemann.

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Elisabeth Käsemann Bürgerrechtlerin
Bild: picture-alliance/dpa/dpaweb

Buenos Dias Argentina!
Guten Tag, du fremdes Land!
Buenos Dias Argentina!
Komm' wir reichen uns die Hand!

Als Udo Jürgens mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft seinen größten Schallplattenhit kurz vor Beginn der Weltmeisterschaft in Argentinien singt, ist die deutsche Studentin Elisabeth Käsemann schon nicht mehr am Leben. Am 24. Mai 1977 wird das bekannteste Opfer der argentinischen Militärdiktatur durch Schüsse ins Genick und in den Rücken ermordet. Die Tochter des berühmten Tübinger Theologen Ernst Käsemann könnte heute noch leben, hätte das deutsche Außenministerium damals nicht die Hände in den Schoß gelegt.

Deutschlands Politik: Nichts sehen, nicht hören und nichts sagen

Sao Paulo Herta Däubler-Gmelin in Brasilien
Herta Däubler-Gmelin: "Das zeigt, wie ahnungslos dieser Botschafter war"Bild: DW/Nádia Pontes

Herta Däubler-Gmelin war damals schon Mitglied des deutschen Bundestages. Die SPD-Politikerin machte sich vehement für die Freilassung von Käsemann stark: "Ich habe mit parlamentarischen Anfragen die Staatsminister Hildegard Hamm-Brücher und Klaus von Dohnanyi gebeten, sich einzuschalten. Doch die haben nur abgewunken." Genauso wie Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der bei einer Besprechung gesagt haben soll: "Ach, das Mädchen Käsemann." Die Haltung Deutschlands, des größten Waffenlieferanten der argentinischen Diktatur: Das ist nicht unser Problem. Für Däubler-Gmelin war das "eine zutiefst falsche Auffassung für eine Regierung, die für sich Werte in Anspruch nimmt und auch demokratische Institutionen und rechtsstaatliche Institutionen aufrechterhalten will."

Während es Großbritannien und Frankreich gelingt, durch diplomatische Interventionen ihre Staatsangehörigen aus den Gefangenenlagern zu befreien, bleibt die deutsche Bundesregierung untätig. In Deutschland hat die Rote Armee Fraktion im April 1977 den Generalbundesanwalt Siegfried Buback erschossen, Käsemann, die sich in argentinischen Armenvierteln engagiert und Alphabetisierungskurse gegeben hat, wird vom damaligen deutschen Botschafter in Buenos Aires, Jörg Kastl, als linke Terroristin abgestempelt. "Diese Einschätzung war so etwas von falsch, dass man das nur mit Abscheu und Entsetzen zurückweisen kann", erklärt Däubler-Gmelin, "das zeigt, wie ahnungslos dieser Botschafter war."

Deutscher Fußball-Bund unterstützt Militärjunta

Auch der DFB spielt das falsche Spiel mit. Am 6.Juni 1977 absolviert die Nationalmannschaft ein Freundschaftsspiel gegen den Gastgeber in Buenos Aires. Drei Tage vorher erfährt das Auswärtige Amt und DFB-Präsident Neuberger, der in Interviews den Militärpusch gerechtfertigt hatte, von dem Tod Käsemanns. Statt das Spiel abzusagen, wird die Nachricht geheim gehalten. Die deutsche Öffentlichkeit erfährt erst nach dem Spiel davon.

Die Nationalmannschaft bezieht 1978 ihr Quartier in Ascochinga in der Nähe von Córdoba, in der Nähe eines Folterzentrums des Geheimdienstes. Deutschland scheidet nach der "Schmach von Córdoba" und der 2:3-Niederlage gegen Österreich in der Zwischenrunde aus.

Jorge Rafael Videla Fußball-WM 1978
1978: Diktator Videla übergibt dem argentinischen Kapitän Passarella den WM-PokalBild: -/AFP/Getty Images

Argentinien kommt gleichzeitig durch ein 6:0 gegen Peru weiter - ein Spiel, das immer noch im Verdacht steht, gekauft worden zu sein. Wenige Tage später gewinnt das Team um Trainer César Luis Menotti mit einem 3:1 nach Verlängerung gegen die Niederlande den Titel. Es herrscht Ausnahmezustand im Monumental-Stadion von Buenos Aires, ganz in der Nähe des größten Folterzentrums "ESMA" (Escuela Mecánica de la Armada). Die Bilder um die jubelnde Junta mit Diktator Jorge Videla gehen um die Welt.

Eine Stiftung gegen systematischen staatlichen Mord

Dorothee Weitbrecht ist zu dem Zeitpunkt noch ein junges Mädchen. Am 7.März 1977 hat sie eine Postkarte von Elisabeth Käsemann bekommen. "Schließen wir einen Pakt. Du schreibst mir, und ich schreibe dir! Einverstanden?", schreibt ihre Tante. Es ist die letzte Nachricht, die Weitbrecht von der Schwester ihres Vaters erhält, wenige Wochen später ist sie tot. "Ich verbinde mit Elisabeth, die auch meine Patentante war, eine sehr starke, positive und fröhliche Person. Wenn Sie sich für etwas entschieden hatte, ist sie konsequent dafür eingetreten."

Die Ermordung ihrer Tante hat Dorothee Weitbrecht ihr Leben lang geprägt. Sie hat deshalb 2014 die Elisabeth-Käsemann-Stiftung gegründet, die an staatliche Unterdrückung und Verfolgung erinnert. Aktuell läuft gerade ein Schulprojekt, bei dem Kinder aus Argentinien und Deutschland die Menschenrechtssituation entlang der Geschichte ihrer Länder aufarbeiten. "Das ist das Besondere an unserer Stiftung", erklärt Weitbrecht, "wir versuchen, Erinnerung über Grenzen hinweg zu unterstützen."

Bis heute hat weder die deutsche Regierung noch der Deutsche Fußball-Bund bei ihrer Familie um Entschuldigung gebeten. Und bis heute ist der DFB die Institution, die Informationen über die Geschehnisse vor 40 Jahren nicht teilt und ihr Archiv geschlossen hält. Für Dorothee Weitbrecht passt das ins Bild: "Der DFB sagt, es gibt kein Archiv. Aber wenn wir an die WM-Vergabe an Deutschland und das Sommermärchen denken, sehen wir, dass es mit der Transparenz nicht so weit her ist." Die Nichte von Elisabeth Käsemann wird trotzdem weiter bohren und den DFB an seine Verantwortung erinnern: "Eine Institution wie der DFB, die derartig viel Einfluss auf Jugend und auf die Gesellschaft hat, hat auch eine gewisse ethische Vorbildfunktion!"

Porträt eines blonden Manns im schwarzen Hemd
Oliver Pieper DW-Reporter und Redakteur