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Fremdschämen

29. September 2009

Fremdschämen: Ich hatte das für ein Modewort gehalten, eines, das kommt und geht; aber ich habe mich eines anderen belehren lassen.

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Der Schriftsteller Burkhard Spinnen (Foto: privat)
Burkhard SpinnenBild: privat

Nicht nur sind die Presse und das Internet voll von Reflexionen über Bedeutung und Herkunft dieses Wortes. Auch der Duden hat es schon aufgenommen und ihm eine Definition verpasst: Fremdschämen, das heißt, sich stellvertretend für andere zu schämen. Man kann also vermuten: Das Wort fremdschämen wird uns noch eine Weile erhalten bleiben. Aber warum ist das so?

Fremdschämen vs. sich schämen für

Warum sagt man nicht weiterhin, wie in den letzten paar Hundert Jahren: Ich schäme mich für jemanden? Die einschlägigen Situationen sind doch nicht neu. Im Gegenteil, das gab es immer: Einer merkt nicht, wie er sich blamiert, aber ich merke es und schäme mich für ihn. Warum also dieses neue Wort?

Nun, weil es eben doch einen Unterschied gibt! Sich für jemanden zu schämen, das hieß bislang zumeist, aufgrund persönlicher Beziehungen zu einem anderen Scham zu empfinden. Es hieß also auch immer, sich dafür zu schämen, dass man denjenigen kennt, der sich gerade blamiert. Wer sich für jemanden schämt, der schämt sich auch seiner Nähe zu dem Betreffenden.

Neue Blamagen, neue Wörter

Tanzeinlage von Moderatorin Sonja Zietlow in der MDR-Talkshow 'Riverboat' (Foto: picture-alliance / ZB)
Ob sich hier wohl jemand fremdschämt?Bild: picture-alliance/ ZB

Das Fremdschämen aber bezieht sich überwiegend nicht mehr auf Menschen, die einem nahe stehen, sondern auf andere, eben auf Fremde, denen man in der Öffentlichkeit, insbesondere aber in den Medien begegnet. Alle Texte übers Fremdschämen, die ich gelesen habe, nennen dafür als Beispiel die Gäste in den Talkshows.

Und ich denke, das stimmt. Hier liegt der Ursprung des Fremdschämens. Der Mensch in der Talkshow, der sich ohne zu wissen, was mit ihm geschieht, für ein Unterhaltungsformat ausbeuten lässt, ist ein historisch neues Phänomen. Also ist auch unsere emotionale Beziehung zu ihm etwas Neues, das nach einem neuen Wort verlangt.

Mitleid mit dem Talkgast empfinden wir nicht, er tut es ja freiwillig oder sogar für Geld. Wir schämen uns auch nicht für ihn, er ist ja kein Freund oder Bekannter. Aber angesichts seiner peinlichen Zurschaustellung empfinden wir Scham über die Schamlosigkeit des Mediums, das eine solche Ausbeutung betreibt. Und vielleicht empfinden wir ja auch Scham darüber, dass wir selbst, indem wir die betreffenden Formate anschauen, an dieser Ausbeutung beteiligt sind.

Man könnte daher vielleicht sagen: Das Fremdschämen ist ganz wesentlich ein sich-selbst-Schämen! Wir schämen uns für das, was wir Fremden antun, indem wir den Fernseher anstellen und die Quote erhöhen. Das ist Fremdschämen. Und ich bin sicher, so bald wird das Wort nicht verschwinden.


Burkhard Spinnen, geboren 1956, schreibt Romane, Kurzgeschichten, Glossen und Jugendbücher. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Spinnen ist Vorsitzender der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises. Zuletzt ist sein Kinderbuch "Müller hoch Drei" erschienen (Schöffling).

Redaktion: Gabriela Schaaf