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Franzosen (Un-)Freiheiten

Siegfried Forster6. Oktober 2008

Die neue polizeiliche Datenbank EDVIGE lässt viele Franzosen um ihre persönlichen Freiheitsrechte bangen. Neben Hautfarbe und Einkommen sollten auch Angaben zu sexueller Orientierung und Krankheiten gespeichert werden.

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laptop mit auge auf Chefsessel
Angst vor dem allwissenden Computer geht in Frankreichs Straßen umBild: dpa zb
Richter des Bundesverfassungsgerichts, Innenminister Wolfgang Schäuble, Demonstrant hält während einer Demonstration ein Schild in die Höhe, Polizisten mit Kopfhörern am Computer (Quelle: picture-alliance, dpa, Görner)
Was und wieviel der Staat über seine Bürger speichern darf, wurde auch in Deutschland heftig diskutiertBild: picture-alliance/ dpa/ Görner

"In Deutschland ist alles verboten, was nicht erlaubt ist. In Frankreich ist alles erlaubt, was nicht verboten ist." Alltagsweisheiten wie diese zeugten lange von der überragenden Freiheitsliebe der Franzosen. Doch die politische Landschaft in Frankreich hat sich verändert. In der neuen polizeilichen Datenbank EDVIGE (Exploitation Documentaire et Valorisation de l'Information Générale) werden praktisch alle Franzosen zu Verdächtigen – ohne dass ein Registrierter jemals vorbestraft gewesen sein muss. Anfänglich sah das am 1. Juli verabschiedete Dekret sogar vor, neben Informationen zur Hautfarbe und zum Einkommen auch Angaben zur sexuellen Orientierung und Krankheiten zu speichern.

Entrüstung und Klagen

Für Jean-François Cherèque, Chef der Gewerkschaft CFDT, ein Skandal: "Es ist vollkommen unhaltbar. Und ich sehe auch keinen Nutzen, den man aus einer Datenbank ziehen könnte, die die Gewerkschaftszugehörigkeit eines Bürgers, seine sexuelle Orientierung, seine Krankheitsgeschichte oder was auch immer festhält. Außer man möchte auf unzulässige Weise die Bürger unseres Landes kontrollieren."

Für viele Kritiker hatte die französische Regierung mit dem Dekret eine unsichtbare Linie überschritten und mit demokratischen Traditionen gebrochen. Menschenrechtler, Gewerkschafter, Mitglieder von Homosexuellen-Vereinigungen und Studenten-Vertretungen sahen sich bereits im Fadenkreuz polizeilicher Ermittlungen, gebrandmarkt als potenzielle Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Was folgte war ein öffentlicher Sturm der Entrüstung und Klagen über einen drohenden Ausverkauf persönlicher Freiheiten und republikanischer Prinzipien. Still und heimlich während der Sommerferien als Dekret veröffentlicht, entwickelte sich EDVIGE nach der Sommerpause zu einer politischen Bombe. Innerhalb weniger Wochen unterzeichneten über 140.000 Bürger eine Anti-Edvige-Petition und die Regierung musste den Rückzug antreten.

Regierung rudert zurück

Frankreichs Innenministerin Michèle Alliot-Marie (Quelle: dpa)
Unterschätzte die Reaktion der Bevölkerung: Frankreichs Innenministerin Michèle Alliot-MarieBild: picture alliance/dpa

Innenministerin Michèle Alliot-Marie gestand, sie habe die Auswüchse an Phantasie unterschätzt, die es um die "Datenbank der Geheimdienste für die innere Sicherheit" gegeben habe: "Mir erschienen die Dinge logisch und meiner Ansicht nach bestand keinerlei Anlass zur Beunruhigung. Aber offenbar gibt es hinsichtlich mancher Dinge gewisse Befürchtungen. Also werde ich diese Dinge entfernen. Denn auch das ist meine Pflicht."

Das bisherige Ende vom Lied: Angesichts heftiger Proteste sah sich Präsident Sarkozy gezwungen, "Big Sister" EDVIGE abzuspecken. Sexuelle Orientierungen und Krankheiten dürfen nicht mehr gespeichert werden, die Daten Minderjähriger ab 13 Jahren auch weiterhin. Allerdings wollen die Behörden nun nach fünf Jahren überprüfen, ob die Daten der Jugendlichen gelöscht werden können. Für den Leiter der französischen Datenschutzbehörde CNIL, Alex Türk, ist damit der Skandal EDVIGE vorbei: "Wenn man Jugendliche im Alter von 13, 14 oder 15 Jahren in einer Datenbank erfassen will, muss man ein Datum festlegen, an dem diese Informationen wieder gelöscht werden können. Man muss den Jugendlichen die Möglichkeit geben, wieder ein normales Leben zu führen." Ein weiteres Problem, das die CNIL sah, war die geplante Erfassung von sexuellen Vorlieben und Krankengeschichten. "In dem Moment, in dem diese beiden Informationen entfernt wurden, sahen wir keinen Anlass mehr, uns gegen das Dekret auszusprechen. Wir beschränken uns jetzt darauf aufzupassen, dass die wichtigsten Einwände auch wirklich berücksichtigt werden", so Türk.

Widerstand bleibt

Für das Anti-EDVIGE-Komitee ist auch das geänderte Dekret nicht mit den Freiheitsrechten der französischen Verfassung vereinbar. So kritisierte Faouzi Lamdaoui, bei der Sozialistischen Partei für Chancengleichheit zuständig, dass in der neuen Datenbank EDVIGE 2 ethnische Merkmale und die Rassenzugehörigkeit gespeichert werden dürfen. Die französisch Tageszeitung "Le Monde" konnte dem "Zyklon EDVIGE" immerhin eine gute Seite abgewinnen. Die Zeitung kommentierte: "Erstmals seit dem 11. September 2001 lehnen sich die Franzosen gegen unverhältnismäßige Verschärfungen von Sicherheits-Maßnahmen auf und verteidigen ihre Freiheit."

Das Anti-EDVIGE-Komitee, das über 800 Vereine und Gewerkschaften umfasst, will den Kampf gegen die polizeiliche Datenbank weiterführen. Der nächste Aktionstag ist der 16. Oktober: Namenstag der Heiligen EDVIGE. Und im Dezember wird der französische Staatsrat über die Verfassungsmäßigkeit des Projektes entscheiden.