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Der Tag danach

Barbara Wesel8. Januar 2015

Nach der Nacht der Trauer folgt in Frankreich ein Tag der Selbstvergewisserung. Wie wird das Leben nach dem Mordanschlag aussehen, den viele als Angriff auf ihre Werte und Traditionen erfahren?

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französische Flagge auf Halbmast Foto: "Reuters/P. Wojazer
Bild: Reuters/P. Wojazer

Es war eine Nacht der unmittelbaren und spontanen Trauer in Paris - auf den Plätzen hatten sich Mahnwachen versammelt, mit Kerzen und dem allgegenwärtigen Slogan "Je suis Charlie". Überall in Frankreich identifizierten sich die Menschen mit dem für seine Frechheit und Unerschrockenheit berühmten Satiremagazin. "Charlie Hebdo" war seit Jahrzehnten Teil der kulturellen Landschaft der Franzosen, seine Zeichner Ikonen jener urfranzösischen Tugend: Mit Scharfsinn und Respektlosigkeit den Mächtigen ihre Grenzen aufzuzeigen. Nicht weit von den Büros des Magazins verläuft die Rue Voltaire, in Erinnerung an den berühmten Freigeist, der im 18. Jahrhundert wegen seiner Unbotmäßigkeit gegenüber dem französischen Königshaus das Land verlassen musste. Es sind diese historischen Linien in die Gegenwart, die den Anschlag auf "Charlie Hebdo" für Frankreich so bedeutsam machen, jenseits des reinen Schocks über ein grauenerregendes Blutbad.

Die Zeitungen des Landes tragen heute viel Schwarz auf ihren Titelseiten: "Sie haben die Freiheit ermordet", heißt es dort in Großbuchstaben und: "Das ist eine Kriegserklärung an Frankreich". Besonders berührend dabei sind viele Karikaturen, die zeigen, dass der Zeichenstift am Ende mächtiger ist als das Gewehr. Und das ist, was diese Mordtat von anderen unterscheidet: Sie ruft nicht nur Abscheu und Wut hervor, sie hat die Franzosen in der Seele getroffen, in dem, was sie als den Kern ihrer Zivilisation betrachten.

Schock auch unter Muslimen

Auf die Trauer im Land über den brutalen Tod dieser Helden der spitzen Feder und der freien Meinungsäußerung folgt heute der Tag der offiziell verordneten Trauer. Alle Flaggen im Land stehen auf Halbmast, und Politiker werden einmal mehr Worte der Betroffenheit finden. Präsident François Hollande hat zur nationalen Einigkeit gemahnt, er hofft, dass dieses Attentat nicht dazu dienen wird, die Nation weiter zu spalten. Die Ablehnung der Schreckenstat ist auch unter französischen Muslimen absolut einhellig: In dieser Situation sieht sich die Mehrheit von ihnen als Franzosen, die ihren Stolz auf die Prinzipien des Landes bekunden, die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit heißen. Auch wenn im Alltag ihres Lebens gegen diese hohen Grundsätze so oft verstoßen wird.

Presseausweis Foto: DW/A. Mohtadi
Frankreich hält jetzt erst recht die Pressefreiheit hoch.Bild: DW/A. Mohtadi

Ein Test für die demokratische Reife Frankreichs

Denn das ist die deutliche Gefahr aus diesem Mordanschlag, und das war wohl auch Ziel der Täter: Den Extremismus zu befördern, indem sie französische Muslime weiter aus der Gesellschaft ausgrenzen. Es wird an der Mehrheit im Land liegen, das nicht zuzulassen. Aber das ist eine große Herausforderung für die demokratische Reife eines Landes. Ohne Zweifel werden rechtsextreme Kräfte versuchen, daraus ihren Vorteil zu ziehen. Im Augenblick halten sich etwa Sprecher des Front National noch zurück, weil sie erkennen, dass die Stimmung des Landes derzeit keine politischen Richtungskämpfe will. Aber das wird sich in ein paar Wochen ändern, wenn das unmittelbare Entsetzen der Suche nach Ursachen und Schuldigen gewichen sein wird.

Die Polizei hat mit ihrer schnellen Identifizierung der Täter gezeigt, dass sie Einblick in extremistische Kreise hat. Hollande hat angedeutet, dass in jüngster Zeit mehrere Anschläge verhindert werden konnten. Der gegen "Charlie Hebdo" erreichte seinen blutigen Erfolg: Die Täter ermordeten die zur Bewachung des Magazins abgestellten Polizisten mit derselben Brutalität wie die Journalisten in ihrem Redaktionsbüro. Nachdem aber die Täter gefasst sein werden, kommt die eigentliche Probe: Der französische Präsident wird eine Größe zeigen müssen, die er angesichts der wirtschaftlichen Probleme des Landes bisher nicht aufbrachte. Und seine Bürger werden zeigen müssen, was in ihnen steckt: "Wir haben keine Angst", hieß einer der meistgesagten Sätze gestern. Hoffentlich bleiben der Mut und die Vernunft, diese französischen Tugenden seit der Aufklärung, auch in den nächsten Wochen und Monaten bei ihnen.