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Fragen, immer wieder Fragen

9. November 2009

Mein Mauerfall fängt irgendwann im Frühsommer des Jahres 1989 an. Zum ersten Mal durfte ich in das "Nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet" reisen; in den Westen, der in diesem Fall südlich lag.

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Es ging nach Österreich mit einer Reisegruppe von "Jugendtourist", einem DDR-Reisedienst für junge Menschen - mit eingeschränkter Auswahl an Zielen, versteht sich. Wien, Kärnten und das Burgenland, das waren die Stationen. Der Konsumschock, vor dem man uns bei der Abreise gewarnt hatte, er ereilte mich in Wien. Der Kaufrausch blieb aus, denn ich hatte nur ein paar Kronen in der Tasche. Auf den "Klassenfeind" trafen wir später im Burgenland, in einem internationalen Zeltlager, organisiert von jungen österreichischen Sozialdemokraten. Es waren drei total verregnete Tage. Es waren drei Tage und Nächte, die mein Weltbild ins Wanken brachten. Zu dieser Zeit hatte die Mauer erste, noch unsichtbare Risse bekommen. In all den nächtelangen Diskussionen unter nassen Zeltplanen, mit jungen Leuten aus verschiedenen Ländern, immer wieder die Frage: Aber diese Mauer, sie kann doch nicht ewig stehen bleiben? Keiner aber, der eine Antwort wusste. Weil sich keiner wirklich vorstellen konnte, was ein halbes Jahr später tatsächlich geschah.

Was nach der Rückkehr von dieser Reise folgte, waren aufregende Tage, Wochen und Monate. Mit der immer wiederkehrenden Frage: Wie wird das alles weiter gehen? Endlose Diskussionen, im Kollegenkreis, zu Hause, überall, immer.

Mein wilder, wilder Westen: Henrik Böhme

In Leipzig, meiner Heimatstadt, begannen die Montags-Demonstrationen. Alles nur "asoziale Elemente und Rowdys" - wie sie im "Neuen Deutschland" oder in der "Aktuellen Kamera" genannt wurden? Also hingefahren und selbst ein Bild gemacht. Kurt Masur, der große Dirigent, der mit anderen zur Gewaltlosigkeit aufruft. Mein Vater mit auf der Straße. Die Mannschaftswagen in den Seitenstraßen. Eindrücke, Emotionen, Fragen über Fragen, Zweifel an der eigenen Position. Aber zu wenig Mut zur Wahrheit. Auch Angst. Ja: Angst vor dem Staat, an den ich geglaubt hatte. Bis zu diesem 9. Oktober. Heute weiß ich: Ich hätte mitgehen müssen!

Dann genau einen Monat später: Dieser Abend des 9. November, diese Pressekonferenz. Dieser Satz: "Der Ministerrat hat beschlossen, eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen." Ich denke: Super! Wir können endlich reisen! Wohin wir wollen! In dieser Nacht der Nächte schlafe ich gut. Am nächsten Morgen ist irgendetwas anders. Der Reporter im Morgenmagazin von Radio DDR meldet sich vom ... Kurfürstendamm!!! Was ist hier los? Die Fernsehbilder geben die Antworten.

Von da an ist wirklich nichts mehr, wie es einmal war. Ich lebe und arbeite wie in einer Zentrifuge. Es sind Monate, wie es sie später für mich nie wieder geben wird. Intensiv, verwirrend, schier ohne Pause. Endlich Journalismus, wie er sein soll. Ohne die "da oben". Aber auch wieder mit dieser Frage: Wie geht es weiter? Es geht weiter: "Wir sind ein Volk", dieser Ruf wird am 3. Oktober Realität. Für mich bringt dieser Tag den glücklichen Übergang von Radio Berlin International zur Deutschen Welle mit wenigen anderen.

Heute werde ich oft gefragt: Warum bist du nicht abgehauen? Ich antworte: Weil ich Familie hatte, Verantwortung, Freunde und Arbeit. Weil ich glaubte, man könnte dieses System besser machen. Ich hatte keine Privilegien, wohl aber eine Stasi-Akte. Ich sollte Nachbarn und Mitarbeiter aushorchen. Sie boten eine neue Wohnung. Einen Decknamen hatten sie sich schon ausgedacht. Ich lehnte ab.

Geschrieben habe ich diesen Text in Südfrankreich. Das ist heute mein wilder Westen genau wie Kanada, New York, Bali, Hokkaido oder Schleswig-Holstein. Was hätte ich alles nicht kennen gelernt ohne diesen 9. November. Ich wünsche sie mir nicht zurück, die alte Zeit. Aber ich will sie auch nicht ausblenden, auslöschen gar. Sie gehört zu meinem Leben. Genau wie der 9. November.

Autor: Henrik Böhme
Redaktion: Ramón Garcia-Ziemsen