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Spinnens Wortschau

30. Januar 2011

In meiner letzten Wortschau habe ich davon gesprochen, dass sich der Bedeutungswandel einzelner Wörter meistens ziemlich langsam vollzieht, jedenfalls langsamer und subtiler, als die meisten Moden wechseln.

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Der Schriftsteller Burkhard Spinnen (Foto: privat)
Burkhard SpinnenBild: privat

Manchmal kann es allerdings vorkommen, dass man, wenn man aufmerksam genug ist, die Geburt eines neuen Wortes aus dem Geiste des alten live miterleben kann.

Mir ist es vor fast dreißig Jahren so gegangen, als ich ein Interview mit der Popsängerin Nena hörte, deren Karriere damals gerade begann. Sie war Anfang Zwanzig, forcierte aber das Gebaren und die Sprechweise eines noch viel jüngeren Mädchens. Mir war das, ehrlich gesagt, ziemlich peinlich. Schließlich sagte sie dem Moderator, sie müsse jetzt weg, um den Flieger noch zu kriegen.

Fremdschämen für Nena

Mich packte umgehend, was man viel später das "Fremdschämen" nennen sollte, also ein Gefühl der Scham für andere, die einem nicht einmal nahe stehen. Um Himmels Willen, dachte ich: Flieger! So redeten kleine Kinder, beziehungsweise so redete man mit kleinen Kindern. Dabei heißen die Dinger am Himmel Flugzeuge; und Flieger sind allenfalls die Leute, die sie steuern, obwohl man auch die besser Piloten nennen sollte.

Ein Pilot winkt aus dem Cockpit des Airbus A 380 (Foto: dpa)
Flieger im FliegerBild: picture alliance/dpa

Aber schon damals schwante mir, dass dieser Baby- oder besser Mädchentalk nicht so ganz unsympathisch rüberkommen könnte. Was er auch nicht tat. Im Gegenteil. Nach fast zwei Jahrzehnten, in denen man von jungen Leuten hauptsächlich politische Parolen und Aufmüpfigkeiten jeder Art gehört hatte, schien es eine Entspannung zu sein, wenn die Teens und sogar die Twens jetzt wie die Kleinkinder redeten. Flieger mochte peinlich sein, aber es war einfach besser auszuhalten als "Verblendungszusammenhang", "staatliche gelenkte Kulturindustrie" oder "Sozialisierung des Kapitals".

Neue Deutsche Welle

Die Musikrichtung, für die Nena damals stand, hieß "Neue Deutsche Welle"; und besonders neu war an ihr, dass die banalen Texte, die für gewöhnlich unter Popsongs liegen, jetzt tatsächlich auf deutsch gesungen wurden. Sie handelten von diesem und jenem, aber sie trafen sich in einer furchtbaren Infantilität. Der Text zur Hymne dieser Bewegung lautete: "Ich lieb dich nicht, du liebst mich nicht. Da da da."

Offenbar meldete sich damals eine Generation zu Wort, die dem Politgedröhn ihrer älteren Geschwister etwas ganz anderes entgegen setzen wollte, auch auf die Gefahr hin, dass es kindliches Geplapper war. Und sie hat damit einen gewissen Erfolg gehabt. Der Flieger zum Beispiel hat es, Schritt für Schritt, bis in die Sprache der Fernseh- und Rundfunkmoderatoren gebracht. Ich habe einen Test durchgeführt: Meinen Söhnen, 17 und 20, fällt der Flieger gar nicht mehr auf. Das Kinderwort ist mit seinen Benutzern erwachsen geworden. Und ich fürchte, Flugzeug sagt man heute nur noch, wenn eines abgestürzt ist.


Autor: Burkhard Spinnen
Redaktion: Gabriela Schaaf


Burkhard Spinnen, geboren 1956, schreibt Romane, Kurzgeschichten, Glossen und Jugendbücher. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Spinnen ist Vorsitzender der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises. Zuletzt ist sein Kinderbuch "Müller hoch Drei" erschienen (Schöffling).