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Karl Schlögel erhält den Buchpreis zur europäischen Verständigung

Cornelia Rabitz10. März 2009

Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel erhält in diesem Jahr den Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Die Auszeichnung wird auf der Leipziger Buchmesse überreicht.

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Wissenschaftlicher SeiteneinsteigerBild: Peter-Andreas Hassiepen

"Geschichte spielt nicht im luftleeren Raum, sondern hat einen Ort", schrieb Karl Schlögel einmal. Schauplätze, an denen die Vergangenheit Spuren in der Gegenwart hinterlassen hat, sind sein Betätigungsfeld. Das Aufspüren und Ausleuchten von Raum und Zeit hat ihn immer interessiert. Nie hat er sich nur aufs akademische Forschen verlassen, sondern stets das persönliche Erforschen und Erleben in den Vordergrund gestellt. Wie der klassische Flaneur bewegt sich Schlögel in historischen Räumen; gut vorbereitet, mit Bildern und Büchern im Kopf, tritt er , wie er einmal formulierte, "in eine Suchbewegung ein": Herumgehen und hinschauen. Alles was angeblich schon geklärt ist, noch einmal in Frage stellen – der Historiker als Detektiv, auch so hat sich Schlögel einmal selbst bezeichnet.

Die Mitte liegt ostwärts

Buchcover Karl Schlögel Terror und Traum Hanser Verlag

Der 1948 geborene Osteuropaexperte ist seit 15 Jahren Professor an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, dennoch hat er keine akademische Karriere im klassischen Sinne absolviert. Karl Schlögel war ein Seiteneinsteiger und gilt als eine Ausnahmeerscheinung im deutschen Wissenschaftsbetrieb. Nach Studium und Promotion arbeitete er jahrelang als freier Autor und Privatgelehrter und schrieb aufsehenerregende Bücher, mit denen er einer großen Leserschar den Osten Europas – den er selbst so intensiv bereist - näherbrachte. 1986 erschien sein inzwischen geradezu legendärer Text "Die Mitte liegt ostwärts", das Plädoyer für einen Perspektivenwechsel. Nirgendwo sei das Abenteuer leichter erreichbar als in der nächsten Nachbarschaft schreibt er darin und meint die Mitte und den Osten Europas, jenes Gebiet – damals noch auf der anderen Seite des "Eisernen Vorhangs" - wo sich vieles "auf liebenswürdige Weise Altmodische und doch Lebendige" erhalten habe.

Europa leuchtet

Städte, Plätze, der öffentliche Raum, in dem sich Geschichte vollzieht sind sein Thema. Europa erkunden und neu vermessen – darum geht es in seinem Buch "Marjampole – oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte". Hier führt uns der Autor in fast vergessene Metropolen Litauens, der Ukraine, Russlands, der Slowakei, Ungarns. Seine Beschreibungen sind keine Reiseliteratur im herkömmlichen Sinne, es sind kulturhistorische Essays voller ungewöhnlicher Blickwinkel und Entdeckungen. "Was Europa ist, ist es durch seine Landschaften und Städte", schreibt Schlögel.

Oft beschäftigt er sich auch mit Bahnhöfen und mit Grenzen, wo Verbindungslinien zusammenlaufen und sich trennen, Kulturen aufeinander treffen, Menschen sich in alle Himmelsrichtungen bewegen. "Das Russische Berlin, Ostbahnhof Europas" liefert hierzu am Beispiel der russischen Emigration zwischen den beiden Weltkriegen wunderbares Anschauungsmaterial.

Terror und Traum

Seine Bücher sind stets opulent: im Umfang, im Inhalt, in ihrer Gestalt, in ihrem Anspruch an die Leser. Für sein vorläufig letztes und von vielen Kritikern als opus magnum bezeichnete Werk erhält der vielfach preisgekrönte Autor nun den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung: "Terror und Traum - Moskau 1937". An dieser überwältigenden Studie zeigt sich einmal mehr Schlögels ungewöhnliches Vorgehen: Er nimmt nicht nur wissenschaftliche Literatur unter die Lupe, sondern auch Zeitungsartikel, Tagebucheinträge, Briefe. Auch dieses Buch - wie seine anderen - lebt von einer Fülle persönlicher Gespräche und Begegnungen mit Freunden und Zeitzeugen.

Historisches Panorama

Nie hat sich der Autor allein auf papierene Quellen verlassen. In einer Art Panorama blättert er so das Jahr 1937 in allen Facetten auf – vom stalinistischen Terror über die gigantische Industrialisierung, die riesigen Aufmärsche, das alltägliche Elend, bis hin zu Tanzfesten und Kulturereignissen. Schlögel schreibt "über eine Stadt, in der Violinwettbewerbe und Erschießungsaktionen Haus an Haus stattfinden". "Chopinkonzert und Tötungsritual" ist ein Kapitel bezeichnet.

Immer wieder hat sich der Autor mit dem Blick auf Mittel- und Osteuropa für eine "zwanglose, unangestrengte Europäisierung unseres Horizonts" ausgesprochen. Erst dann, so Karl Schlögel, würde "dieses Europa zu leuchten beginnen". In seinen Büchern allerdings leuchtet es schon.