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Flüchtlinge fordern den Arbeitsmarkt heraus

Klaus Ulrich (mit Agenturen)4. September 2015

Viele Firmen hierzulande suchen händeringend nach Mitarbeitern. Viele Asylbewerber würden gerne arbeiten - doch die Hürden für ihre Integration sind extrem hoch. Wie lässt sich das ändern?

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Flüchtling in einer Lernwerkstatt in der Münchner Bayernkaserne (Foto: picture alliance/dpa/S. Hoppe)
Bild: picture alliance/dpa/S. Hoppe

Deutschland rechnet in diesem Jahr mit insgesamt 800.000 Flüchtlingen, das sind vier Mal mehr als 2014. Viele Asylbewerber träumen davon, in Sicherheit zu leben - und einen gut bezahlten Job zu finden. Die Voraussetzungen scheinen dafür auf den ersten Blick in Deutschland gar nicht so schlecht. Immerhin gab es Ende August mit 597.000 so viele freie Stellen wie in keinem anderen EU-Land. Nicht nur in der Gastronomie, auch in vielen Handwerksberufen, in Pflegeheimen, Kliniken und Kindertagesstätten suchen Chefs händeringend geeignete Mitarbeiter - oft vergeblich, wie Branchenverbände immer wieder klagen.

Den wachsenden Arbeitskräftemangel vor Augen, bemüht sich inzwischen die Bundesagentur für Arbeit (BA) verstärkt darum, bei Chefs etwaige Vorbehalte gegenüber Asylbewerbern abzubauen. Seit Mitte August wirbt sie in einer Unternehmerbroschüre offensiv dafür, bei der Besetzung freier Stellen an die Einstellung von Flüchtlingen zu denken. Auch wenn es an ihren Deutschkenntnissen manchmal hapere, brächten Flüchtlinge einiges mit: hohe Motivation, Eigeninitiative, Lern- und Leistungsbereitschaft, Mehrsprachigkeit und kulturelle Kompetenz..

Bundesregierung stellt Weichen

Erste administrative Weichen für eine verstärkte Beschäftigung von Asylbewerbern hat die Bundesregierung angesichts der hohen Flüchtlingszahlen inzwischen gestellt. Selbst Flüchtlinge im laufenden Asylverfahren und geduldete Zuwanderer können - wenn die örtliche Ausländerbehörde zustimmt - inzwischen bereits nach drei Monaten arbeiten. Demnächst könnte auch die sogenannte Vorrangprüfung wegfallen, die Flüchtlinge in den ersten 15 Monaten ihres Deutschland-Aufenthalts bei der Jobvergabe gegenüber Deutschen und anderen EU-Bürgern benachteiligt.

Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), Eric Schweitzer, fordert eine schnelle Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt. Dies sei entscheidend, auch um Vorurteile und Ängste in der Bevölkerung abzubauen, sagte er in einem Interview des SWR: "Wenn wir diese fürchterlichen Anschläge auf die Flüchtlingsheime nicht haben wollen, dann müssen wir viel für die Integration tun."

"Größte Herausforderung seit der Wiedervereinigung"

Das Thema fordere das Land so stark wie nichts anderes seit der Wiedervereinigung, betonte Schweitzer. Flüchtlinge mit einer Bleiberechtsperspektive müssen nach seiner Ansicht schnell Deutsch lernen. Außerdem sollte ihre Qualifikation so früh wie möglich erfasst werden, im Idealfall schon beim Ausfüllen des Asylantrags. Die Industrie- und Handelskammern würden dann prüfen, ob das Berufsbild den deutschen Anforderungen entspreche. Allerdings hätten zwei Drittel aller Flüchtlinge keinerlei Qualifikation.

Für junge Flüchtlinge in Ausbildung fordert der DIHK-Präsident einen Abschiebestopp. Während der Ausbildung und einer zweijährige Anschlussphase müssten Abschiebungen ausgeschlossen sein. "Sie können kein Unternehmen davon überzeugen auszubilden, wenn es befürchten muss, dass der Auszubildende jederzeit abgeschoben werden kann", argumentierte der Chef des Verbandes, der mehr als drei Millionen Unternehmen in Deutschland vertritt.

Kritik am Asylsystem

Auch Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer kritisiert das deutsche Asylsystem scharf. Man müsse dafür sorgen, "dass Asylbewerber nicht viele Monate vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden", sagte Kramer der "Süddeutschen Zeitung". Er forderte Deutschkurse vom ersten Tag an und - wie auch der DIHK-Präsident - ein Bleiberecht für junge Menschen in Ausbildung. "Bisher sperren wir sie quasi in den Aufnahme-Einrichtungen ein. Was erwarten Sie denn da für ein Resultat? So erzeugen Sie Streitigkeiten und Vandalismus." Die steigenden Flüchtlingszahlen wertete er als Chance für den deutschen Arbeitsmarkt. "Wir brauchen in den nächsten 20 Jahren viel mehr Arbeitskräfte, als dieses Land hervorbringen wird."

Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall fordert mehr Anstrengungen des Staates, um Flüchtlingen eine Perspektive auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu geben. "Asylsuchende sollten spätestens nach sechs Monaten Aufenthaltsgestattung in der Bundesrepublik arbeiten dürfen", sagte Präsident Rainer Dulger in einem Interview der Nachrichtenagentur Reuters. Geduldete Flüchtlinge sollten ab dem Tag ihrer Duldung sofort eine Arbeit aufnehmen dürfen. "Bei den Menschen aus Kriegsregionen handelt es sich oft um Eliten, die ihr Land verlassen mussten. Ihnen sollten wir eine Jobchance geben", sagte Dulger.

Großkonzerne melden sich zu Wort

Großkonzerne wie die Deutsche Bahn haben sich längst in die Flüchtlingsdebatte eingeschaltet. "Wir müssen uns als Wirtschaft insgesamt mehr um dieses Thema kümmern", sagte der Personalvorstand des Unternehmens, Ulrich Weber, dem Berliner "Tagesspiegel". "Nicht nur, weil wir gesellschaftliche Verantwortung tragen, sondern auch aus eigenen unternehmerischen Interessen."

Die Bahn plane in Kooperation mit der Bundesagentur für Arbeit zwei regionale Ausbildungsprojekte für erwachsene und jugendliche Flüchtlinge, sagte Weber der Zeitung. Als Ziele dieser Maßnahme nannte er "Willkommenskultur, Qualifizierung und Integration".

Modellprojekt mit ernüchterndem Ergebnis

Trotz allem: Die Hoffnung vieler Syrer, Iraker, Afghanen, Eritreer und Somalier auf einen Job in Deutschland dürfte noch lange ein Traum bleiben. Das macht nicht zuletzt ein ambitioniert gestartetes Modellprojekt der Bundesagentur für Arbeit deutlich. Unter dem Namen "Early Intervention" (Frühzeitiges Eingreifen) hat die BA seit Anfang 2014 bundesweit 800 Asylbewerber systematisch auf das Berufsleben in ihrem neuen Heimatland vorbereitet - in der Hoffnung auf eine baldige Job-Vermittlung. Der bisherige Erfolg hält sich allerdings in Grenzen. Bisher wurden, so berichtete eine Bundesagentur-Sprecherin kürzlich der Deutschen Presseagentur, lediglich 46 Projektteilnehmer in Arbeit vermittelt. 13 gelang der Start einer Lehre.

"Es ist klar, dass wir bei diesem Projekt nicht schnelle Integrationen erreichen können. Die Teilnehmer brauchen aufgrund ihrer persönlichen Situation einfach mehr Zeit, zum Beispiel weil sie traumatisiert sind und die deutsche Sprache von Grund auf erlernen müssen", gibt die BA-Sprecherin zu bedenken.

Dieser Ansicht ist anscheinend auch Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Für Lebensunterhalt, Spracherwerb und die Qualifizierung von Flüchtlingen hält sie im kommenden Jahr 1,8 bis 3,3 Milliarden Euro an zusätzlichen Mitteln für erforderlich.