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Fern der Heimat

Astrid Matthiae24. Januar 2005

Zwangsverheiratungen sollten in einem modernen Land undenkbar sein. Aber auch in Deutschland werden es immer mehr - vor allem in Migrantenfamilien aus der Türkei.

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Die Senatsverwaltung von Berlin beispielsweise hat ermittelt, dass es dort allein im Jahr 2003 bereits 220 Fälle von Zwangsverheiratung gab - und offenbar werden es immer mehr. Die in Hamburg lebende deutsch-türkische Religions-Soziologin Necla Kelek hat darüber ein Buch geschrieben: "Die fremde Braut". Auch nach ihren Recherchen gehört die Zwangsverheiratung mit so genannten "Importbräuten" aus der alten Heimat immer häufiger zur Lebensperspektive türkischer Jugendlicher in Deutschland.

"Zeynep ist 28 Jahre alt und hat drei Kinder. Sie lebt seit zwölf Jahren in der Freien und Hansestadt Hamburg, versorgt den Haushalt ihrer Großfamilie und spricht kein Wort Deutsch. Sie verlässt die Wohnung nur zum Koranunterricht. Sie ist eine 'Import-gelin', eine Importbraut, eine moderne Sklavin. Wie für Tausende anderer türkischer Frauen, die von ihren Familien nach Deutschland 'vermittelt' wurden, gelten für Zeynep die demokratischen Grundrechte faktisch nicht. Sie kennt sie nicht, und es ist niemand da, der sich für ihr Schicksal interessiert."

Brautschau und Menschenrechtsverletzung

Solche Verhältnisse möchte Necla Kelek mit ihrem Buch "Die fremde Braut" ändern. Ihre Untersuchungen gerade in Stadtteilen mit hohem türkischen Bevölkerungsanteil wie Berlin-Kreuzberg und Hamburg-Wilhelmsburg ergaben: Immer häufiger werden für die dort lebenden Türken Ehepartnerinnen und auch -partner aus der Türkei importiert. Während eines Kurzurlaubs in der alten Heimat wickelt die zukünftige Schwiegermutter die Brautschau ab. Die Kinder reisen kurz vor der Hochzeit nach, heiraten die fremde Braut, und die findet sich - oft noch keine 18 - fern der Heimat in der Familie des Ehemanns wieder.

Flucht vor Zwangsheirat
Irgendwo in Deutschland: Eine junge Kurdin ist auf der Flucht vor ihrer eigenen Familie, um der Zwangsheirat zu entgehenBild: dpa

Jede zweite türkische Ehe in Deutschland werde nach diesem Muster geschlossen, sagt Kelek. Tendenz steigend. Die türkischstämmige promovierte Soziologin mit deutschem Pass sieht darin eine grobe Menschenrechtsverletzung und folglich dringenden Anlass zum Handeln.

Ihr geht es dabei auch um die Demokratie in ihrer heutigen Heimat. "Wenn jemand nicht mal in der Lage ist, seine eigene Lebensgefährtin aussuchen zu dürfen, wie soll dieser Mensch demokratische Wahlen durchführen, wie soll er diese Gesellschaft demokratisch oder politisch mitgestalten?"

Turnverbot

Der Zwangsverheiratung gehen andere Beschränkungen voraus. Auch Necla Kelek musste viele Verbote erleiden, bevor sie sich befreite. Sie war 1967 mit zehn Jahren nach Deutschland gekommen. Als sie 13 war, ergriff ihr Vater harte Maßnahmen. Eines Morgens nahm er ihr vor dem Gang zur Schule den Turnbeutel aus der Hand. Seine Begründung: Ihr Jungfernhäutchen müsse unversehrt bleiben. Die Empörung ist heute noch zu hören, wenn Necla Kelek davon erzählt; Empörung auch gegen die Lehrerin, vor der sie mit leeren Händen stand.

"'Sie haben mir meinen Turnbeutel genommen, ich darf nicht mehr mitturnen'. Da sagte sie darauf hin, 'da wollen wir mal deinen Vater nicht ärgern, dann lies ein schönes Buch so lange'. Und ab dem Zeitpunkt saß ich auf der Ersatzbank, und das hab ich ja auch in dem Buch so beschrieben, dass ich mein Leben immer auf der Ersatzbank gesehen habe. Ich habe die Gesellschaft immer beobachtet, aber nicht daran teilgenommen. Und genau diese Art der Erziehung sitzt in den Köpfen der Familien: dass die Kinder aus dieser Gesellschaft rausgezogen werden. Man darf sie beobachten, aber man darf nicht mitmachen."

Auseinandersetzung mit Pascha-Kultur

Es blieb nicht beim Turnverbot. Andere, mindestens ebenso gravierende Verbote und Einschränkungen kamen hinzu. Erst das deutsche Internat brachte die Freiheit. Aber es ging nicht ohne heftige Auseinandersetzungen mit dem Vater. Wie Necla Kelek früher werden auch heute türkische Mädchen von deutschen Behörden und ihren Beamten im Stich gelassen, und betroffen seien heute mehr Jugendliche als früher, so Kelek.

Die Soziologin kritisiert, dass viele deutsche Lehrer(innen) vor lauter Toleranz nicht darüber nachdenken würden, was in dem Kopf dieser Mädchen vorgehe. Und das hat nach ihrer Meinung etwas mit der deutschen Vergangenheit zu tun: "Ich habe das Gefühl, dass gerade diese Mädchen oder grade diese Kultur dafür missbraucht wird, endlich diese Schuld abzutragen, die man gegenüber den Juden mit sich trägt."

Aus der Sicht von Necla Kelek wäre ein wirklich konsequenter Umgang mit dieser historischen Schuld, sich auf die Seite derer zu stellen, deren Menschenrechte heute verletzt werden, und die unbequeme Auseinandersetzung mit sich religiös gebärdenden Paschas aufzunehmen. Zu so einer Auseinandersetzung will Necla Kelek mit ihrem Buch "die fremde Braut" beitragen.

Necla Kelek: Die fremde Braut, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005, ISBN 3-462-03469-3, 18,90 Euro