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Fellatio und Franz Ferdinand

Oliver Samson20. Januar 2005

Die Zeiten, in denen man mit Sex einen Kino-Skandal verursachen konnte, schienen eigentlich vorbei. Michael Winterbottom schaffte es aber dennoch. Er drehte, was man nicht vom ihm kannte: Konzerte und Hardcore-Sex.

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Poesie oder Porno, das ist hier die FrageBild: Sturdust Filmverleih

Nein, einen Porno wollte der britische Regisseur Michael Winterbottom nicht drehen. Vielmehr eine Liebesgeschichte. Inspiriert von den Darstellungen von Sex bei Michel Houellebecq. Doch was der französische Autor zwischen den Buchdeckeln geschehen lässt, ist im Kino meist nur verschämt angedeutet. "Das ist bizarr", meint Winterbottom, 2003 immerhin mit einem Goldenen Bären geehrt. Der eigentlich als politisch bekannte Regisseur entschloss sich, eine Liebegeschichte aus einer einzigen Perspektive zu erzählen - aus der Veränderung des Sexlebens eines Pärchens. Und die Kamera dabei nicht wegschauen zu lassen. Bei wirklich gar nichts.

Konzert und Kopulation

9 Songs, ein Liebesfilm von Michael Winterbottom, Filmstill
9 Songs, ein Liebesfilm von Michael Winterbottom, FilmstillBild: Sturdust Filmverleih
Winterbottoms "9 Songs" erzählt die Geschichte des jungen Paares über die Musik, die sie hören und die Liebe, die sie machen: Klimaforscher Matt (Kieran O'Brien) und die amerikanische Studentin Lisa (Margo Stilley) lernen sich auf einem Konzert in London kennen. Sie schlafen miteinander. Gehen auf Konzerte angesagter Independent Bands wie Franz Ferdinand, Elbow, The Von Bondies oder Black Rebell Motorcycle Club und schlafen miteinander. Neun Konzerte werden mit neun Sexszenen gespiegelt - viel mehr Handlung ist nicht.

Michael Winterbottom
Michael WinterbottomBild: AP
"Aufrichtig sein", war dabei Winterbottoms Hauptanliegen. In bester roher, verwackelter Dogma-Tradition kam der Regisseur bei Kopulation und Konzert mit Digital-Kamera, kleinem Team, Naturlicht und ohne Drehbuch aus. Großen Einsatz verlangt er allerdings von seinen beiden Hauptdarstellern. Von Anfang an machte er ihnen klar, auf was sie sich da einlassen sollten. "Beide hatten immer die Chance auszusteigen", sagt Winterbottom. "Es war aber natürlich hart für sie, so viel Intimität der Öffentlichkeit zu zeigen."

Gebete für die "Porno-Tochter"

Hart wurde es vor allem Margo Stilley. Es war das Filmdebüt für die 21-jährige Amerikanerin. Obwohl es wirklich expliziter Sex im Kino längst nichts mehr Neues ist (Baise-moi, Intimacy, Romance XXX, Idioten), wäre die britische Boulevardpresse nicht die britische Boulevardpresse, wenn sie sich nicht moralisch entrüstet gezeigt hätte. Nach der Premiere des Films in Cannes 2004 fielen The Sun & Co. geschlossen über die Hauptdarstellerin des "schmutzigsten Films aller Zeiten" (Sun) her. Ganze Reporter-Teams schwärmten in Stilleys Heimat North Carolina aus, um vor allem der Familie hart zuzusetzen. "My Prayers For 'Porn' Daughter" und "Bible Belt Mum's Fear For Her Sex Movie Daughter", schrie es von den Titelblättern. Damit hatte Stilley nach eigenen Aussagen nicht gerechnet. Schließlich sei der Film "kein Porno" und zeige eine "monogame Beziehung zwischen zwei Menschen, die sich lieben".

"Eine Entdeckung"

9 Songs, ein Liebesfilm von Michael Winterbottom, Filmstill
9 Songs, ein Liebesfilm von Michael Winterbottom, FilmstillBild: Sturdust Filmverleih

Die weniger sensationslüsternen Kritiker waren durchaus geteilter Meinung über Winterbottoms Werk. Da war natürlich der Pornographie-Vorwurf. Mancher konnte vielleicht noch über das Explizite, nicht aber über die Erzählstruktur und die Abwesenheit von Handlung hinwegschauen. Andere entdeckten jedoch jenseits der leinwandfüllenden Genitalien Poesie. "Der Film sieht aus wie ein Porno, fühlt sich aber an wie ein Liebesfilm", meint der englische Guardian. Einige Kritiker wollen sogar Ähnlichkeiten zu Godards Außer Atem gefunden haben. "Eine Entdeckung", befand die Süddeutsche Zeitung und hob hervor, dass "die Bettszenen vorbehaltlos explizit und in größter Gelassenheit", die Konzerte hingegen "brillant" gefilmt wären. Dafür wurde Michael Zyskind beim renommierten Filmfestival von San Sebastian auch mit dem Preis für die beste Kameraarbeit ausgezeichnet.

Eine Auszeichnung bekam schließlich auch die boulevardgebeutelte Hauptdarstellerin: Winterbottom zeigte sich von ihr so angetan, dass er sie gleich auch für seinen nächsten Film engagierte. Schließlich müsse man Stilley nicht in die Sex-Film Schublade stecken, so Winterbottom. "Marlon Barndo ist ja auch nicht nur der, der im Letzten Tango in Paris gespielt hat".

"9 Songs" läuft ab 20. Januar 2005 in den deutschen Kinos