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Ungarn und die ungeliebte EU

Keno Verseck7. Mai 2014

Drohen und polarisieren: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán macht aus seiner EU-kritischen Haltung keinen Hehl. Doch einen offenen Bruch zwischen Brüssel und Budapest wagt der Konservative nicht. Aus gutem Grund.

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Menschenmassen feiern den Nationalfeiertag in Ungarn (Foto: REUTERS/Bernadett Szabo)
Bild: Reuters

Als Anfang März in Dublin der Kongress der Europäischen Volkspartei tagte, reiste auch der ungarische Regierungschef Viktor Orbán an - und trat ganz als konstruktiver Europäer auf. Er gratulierte dem EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barrosó zur Euro-Rettung, rief dazu auf, dass Europa angesichts der Krim-Krise seine demokratischen Werte verteidigen müsse und forderte ein wettbewerbsfähigeres Europa.

Eine Woche später, zum ungarischen Nationalfeiertag am 15. März, hielt Orbán vor tausenden Anhängern in Budapest eine ganz andere Rede. Ungarn kämpfe mit Feinden, die viel größer und mächtiger seien als es selbst - "mit der Finanzwelt und Reichshauptstädten" - gemeint war unter anderem das EU-Zentrum Brüssel. Seine Regierung beschütze die ungarischen Familien vor "Wucherern, Monopolen, Kartellen und imperialen Bürokraten" - letzteres in der Orbán-Terminologie ein Synonym für EU-Kommissare und -Beamte.

Zwischen Populismus und konstruktiver Kritik

Derartige Auftritte sind charakteristisch für den ungarischen Regierungschef, der sich im Ausland stets gemäßigt und proeuropäisch gibt. Anders im Inland: Seitdem Orbán und seine Regierungspartei Fidesz bei den Parlamentswahlen im April 2010 eine Zweidrittelmehrheit gewonnen haben, grenzen sie sich rhetorisch von Europa und der EU zunehmend ab. "Ungarn hat eine neue offizielle Staatsideologie, in der sich euroskeptischer Nationalismus und Ethnizismus mischen", sagt der Philosoph Gáspár Miklós Tamás.

Ungarns Premierminister Viktor Orban (Foto: EPA/THIERRY ROGE)
Populistischer Kreuzzug gegen Brüssel: Ungarns Premier OrbánBild: picture-alliance/dpa

Aktuelles Beispiel: die Kampagne für die Parlamentswahlen vom 6. April. Hauptthema der Regierungspartei Fidesz ist der so genannte "Wohnnebenkostenkampf". Es geht um die in Ungarn vergleichsweise hohen Preise für Strom, Gas, Wasser und Müllentsorgung. Die Regierung ließ sie im vergangenen Jahr zweimal um jeweils zehn Prozent senken, ein drittes Mal im Februar dieses Jahres - ein Wahlgeschenk an die Bevölkerung, das der Regierung einen Popularitätsschub bescherte. Begleitet wurden und werden die Nebenkostensenkungen von nationalistischer Rhetorik gegen ausländische Energiekonzerne und gegen die EU, die derzeit prüft, ob die Art und Weise der Preissenkungen gegen Gemeinschaftsrecht verstößt. "Brüssel wird die Bühne des Nebenkostenkampfes sein", sagte Viktor Orbán vor einigen Wochen.

Das Ausland als Sündenbock

Die hohen Preise für Energie und kommunale Dienstleistungen in Ungarn sind unter anderem Folge der hohen Mehrwertsteuer von 27 Prozent - Orbáns Regierung hatte sie selbst 2012 angehoben - und der Monopolstellung einiger Versorger, darunter auch staatlicher. Dennoch suggerieren Orbán und Fidesz in der Öffentlichkeit, es seien die ausländischen Konzerne, die auf dem Rücken der ungarischen Verbraucher "ungerechtfertigte Zusatzgewinne scheffeln" würden, während die EU ihnen helfen würde, sich diese Profite zu sichern. Orbán habe das Wahlprogramm der Regierungspartei extrem vereinfacht und auf die Senkung der Wohnnebenkosten reduziert, kommentierte die linksliberale Tageszeitung "Népszabadság" kürzlich und nannte die Wohnnebenkostenfrage Orbáns "Wunderwaffe im Wahlkampf".

Europaabgeordnete protestieren mit Plakaten gegen den ungarischen Ministerpräsidenten Orbán (Foto: dpa)
Anti-Orbán-Protestaktion im Europaparlament: Der Regierungschef hat wenige Freunde in BrüsselBild: picture alliance / dpa

Bei aller Anti-EU-Rhetorik - aus der EU austreten will Ungarn derzeit nicht. Zwar scheint diese Perspektive langfristig nicht ausgeschlossen. Doch derzeit profitieren Fidesz-Politiker und Fidesz-nahe Unternehmer in großem Maße von EU-Fördergeldern und Agrarsubventionen - im krisengeschüttelten Ungarn ein gewichtiger Wirtschaftsfaktor.

Moskau und Peking als Alternativen?

Zugleich orientiert sich Ungarn unter Orbán vor allem wirtschaftlich seit längerem mehr und mehr nach Osten. Im Januar dieses Jahres reiste Orbán nach Moskau, dort erhielt er die Zusage für einen Zehn-Milliarden-Euro-Kredit zur Erweiterung des Atomkraftwerkes in Paks. Wenige Wochen später warb Orbán in Peking inständig um mehr Investitionen - begleitet von der Versicherung, dass man sich in Chinas innere Angelegenheiten nicht einmischen werde. "Orbáns Öffnung nach Osten hat Konsequenzen für die EU", analysiert der Politologe Dariusz Kalan vom Polnischen Institut für Internationale Beziehungen (PISM). "Seine Entscheidungen waren ungünstig für die Östliche Partnerschaft, und China und Russland nutzen Budapests Einstellung ihnen gegenüber für ihre Strategie, Brüssel durch bilaterale Verhandlungen mit EU-Staaten zu schwächen."

Blick ins Inneren des ungarischem Atomkraftwerk Paks (Foto: dpa)
Aus Moskau erhält Ungarn Unterstützung für das umstrittene Atomkraftwerk PaksBild: picture-alliance/dpa

Ausdrücklich möchte Orbán das Lager der Euroskeptiker stärken und plädiert für mehr Eigenständigkeit der einzelnen Mitgliedsländer, für ein "Europa der Nationen", in dem konservative Werte, wie die traditionelle Familie und ein konservativ verstandenes Christentum, wieder eine größere Rolle spielen sollen. Demgegenüber sieht Orbán die EU gegenwärtig als orientierungslos und von einem "schädlichen linksliberalen Post-68er-Geist" dominiert, wie er es bisweilen ausdrückt.

EU-Osterweiterung als Schock

Der ausgeprägten Europafeindlichkeit Orbáns und seiner Regierungsmehrheit mögen die meisten Ungarn nicht so ganz folgen. Zwar beurteilten in den vergangenen Jahren mehr und mehr Ungarn Europa und die EU negativ, wie das Meinungsforschungsinstitut Tarki in einer Studie im August 2013 feststellte. Allerdings liegt der Europessimismus der Ungarn immer noch leicht unter dem EU-Durchschnitt, wie eine Erhebung des Ipsos-Institutes in zehn EU-Staaten kürzlich ergab.

Hintergrund des zunehmenden Europessimismus in Ungarn (ähnlich wie in einigen osteuropäischen EU-Staaten) dürfte das Gefühl vieler Menschen im Land sein, dass der Prozess des EU-Beitritts in vielerlei Hinsicht falsch verlaufen ist. Die Abrufung von EU-Fördergeldern gestaltete sich viel schwieriger als vermutet, ohnehin floss ein Großteil an westliche Beratungs- und Ausrüstungsfirmen zurück. Für westeuropäische Firmen war die EU-Erweiterung mit ihrer einhergehenden Marktöffnung und -liberalisierung ein lukratives Geschäft, für Länder wie Ungarn hingegen in vielen Bereichen ein nachhaltiger Schock. In manchen Wirtschaftsbereichen, wie der traditionellen Kleinlandwirtschaft oder der Lebensmittelindustrie, konnten die meisten Produzenten und Unternehmen nicht überleben.

Foto einer Gaspipeline an der ukrainisch-ungarischen Grenze (Foto: AP)
Wichtiges Wahlkampf-Thema: hohe Energiepreise (hier: Gas-Pipeline an der Grenze zur Ukraine)Bild: AP

Allerdings habe Ungarn der wirtschaftlichen Öffnung auch viel zu verdanken, hielt der Ökonom Miklós Koren der verbreiteten Stimmung gegen ausländische Unternehmen kürzlich im Nachrichtenportal "index.hu" entgegen: "Die multinationalen Firmen in Ungarn sind produktiver, wachsen schneller, bei ihnen steigen Löhne und Beschäftigungszahlen. Sie sind die größten Steuerzahler, und die Regionen, in denen sie sich angesiedelt haben, entwickeln sich."