Favoriten auf Augenhöhe
9. Juni 2012Gleich zwei Rechnungen hat die deutsche Nationalmannschaft mit den Spaniern offen. Zwei bittere 0:1-Niederlagen bei den letzten beiden großen Turnieren schreien geradezu nach Revanche. Erst verlor Deutschland gegen Spanien das Finale der Europameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz und dann 2010 auch noch das Halbfinale der Weltmeisterschaft in Südafrika. Die Spanier holten sich nach dem EM- auch den WM-Titel. Für Deutschland blieb "nur" Platz drei – und das, obwohl die junge Mannschaft von Bundestrainer Joachim Löw nach vorherrschender Meinung den schönsten Fußball des Turniers gespielt hatte.
Gegenseitige Wertschätzung
Zwei Jahre später sehen die Experten beide Mannschaften auf Augenhöhe. Sowohl Spanien als Deutschland gewannen ihre EM-Qualifikationsspiele allesamt und gelten daher als Topfavoriten der Europameisterschaft 2012 in Polen und der Ukraine. Begegnen können sie sich frühestens im Halbfinale – gar erst im Finale, wenn beide ihre Vorrundengruppen als Erste beenden.
"Spanien ist immer noch das Maß aller Dinge", sagt Bundestrainer Löw. "Aber ich sehe Anzeichen dafür, dass andere Nationen aufholen. Dazu gehören wir." Das hat auch sein spanischer Kollege Vicente del Bosque registriert. In Deutschland, so der Trainer der Weltmeisterelf, sei in den letzten Jahren exzellent gearbeitet worden, "nicht nur oben, auch im Juniorenbereich". Löw habe in der Nationalmannschaft "eine Gruppe von hervorragenden Fußballern geformt".
Zwei davon, Mesut Özil und Sami Khedira, stehen seit dem WM-Sommer 2010 bei keinem Geringeren als dem frisch gebackenen spanischen Meister Real Madrid unter Vertrag und haben sich – was viele kaum für möglich hielten – im Starensemble der "Königlichen" durchgesetzt. Auch im Vergleich des deutschen Nationalteams mit dem spanischen lassen sich keine gravierenden Leistungsunterschiede erkennen.
Abwehrreihen mit Schwächen
Im Tor sind beide erstklassig besetzt: Bei den Spaniern überzeugt der dreimalige Welttorwart Iker Casillas nach wie vor mit unglaublichen Reflexen und Paraden. Manuel Neuer ist der modernere Torwart, der häufig mit seinen präzisen Abwürfen und Abstößen die von Löw geforderten schnellen, geradlinigen Angriffe einleitet.
Die Abwehrreihen gelten bei beiden Teams als der Mannschaftsteil, der die meisten Sorgen bereitet. Spaniens Routinier Carles Puyol, der bei der WM 2010 den Siegtreffer gegen Deutschland geschossen hatte, kann wegen einer Knieverletzung nicht bei der EM spielen. Die Spanier werden ihn schmerzlich vermissen, zumal der andere Innenverteidiger, Gerard Pique, seit Monaten schwächelt. Doch auch die deutsche Abwehr wirkte zuletzt alles andere als sattelfest. Immer wieder wechselte der Bundestrainer zuletzt die Defensiv-Reihe.
Tiqui-taca hier, blitzschnelle Angriffe dort
Schmuckstück beider Mannschaften ist das Mittelfeld. Wenn die Stars des FC Barcelona, Andrés Iniesta, Xavi und Cesc Fàbregas, ihr "Tiqui-taca" (spanische Bezeichnung für Klick-Klack-Kugeln) aufziehen, das von den Gegnern gefürchtete perfekte Kurzpass-Spiel, sind sie kaum vom Ball zu trennen. Doch auch die deutschen Mittelfeldspieler gehören zur internationalen Spitzenklasse. Blitzschnell schalten sie von Abwehr auf Angriff um: der kreative Özil, die defensiv wie offensiv starken Bastian Schweinsteiger und Khedira, der vielseitige Toni Kroos, WM-Torschützenkönig Thomas Müller, der schussstarke Lukas Podolski. Und hinter den Etablierten lauern die Jungstars Mario Götze und Marco Reus.
Bewährte Torjäger
Im Sturm setzen beide Trainer auf bewährte Kräfte. Fernando Torres, Torschütze zum 1:0 im EM-Finale 2008 gegen Deutschland, war zuletzt jedoch weit von der Form vergangener Tage entfernt. Und Spaniens Rekordtorschütze David Villa brach sich im Dezember das Schienbein und fällt für die EM aus. Ein herber Verlust. Für ihn geht Pedro vom FC Barcelona auf Torejagd. Im deutschen Sturm ruhen die Hoffnungen vor allem auf Routinier Miroslav Klose, dem nur noch fünf Tore zum Uraltrekord Gerd Müllers (68 Länderspieltore) fehlen. Doch auch Bayern-Torjäger Mario Gomez hat in dieser Saison seinen Torriecher sowohl in der Bundesliga, als auch in der Champions League bewiesen.
"Spanien spielerisch Paroli bieten"
"Spielstarke Mannschaften wie Spanien sind nicht zu schlagen mit Aggressivität oder großer Defensivkunst" hat Bundestrainer Joachim Löw erkannt. "Die Spanier sind nur zu schlagen, wenn man ihnen fußballerisch Paroli bietet." Dazu dürften Löws junge Spieler durchaus in der Lage sein. Gegen Spanien könnte sprechen, dass Trainer del Bosque immer noch weitgehend denselben Stars vertraut wie bei der WM 2010. Junge Talente rückten – anders als in der deutschen Mannschaft – kaum nach. Und auch die Statistik spricht gegen Spanien. Noch nie konnte ein Europameister seinen Titel verteidigen.