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"Fall Öcalan ist Gradmesser für türkische Menschenrechtspolitik"

Das Gespräch führte Steffen Leidel11. Mai 2005

Der Prozess gegen PKK-Chef Öcalan war unfair, sagt der Präsident der Liga für Menschenrechte Rolf Gössner im DW-WORLD-Interview. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht das genauso.

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Abdullah Öcalan: Neues Verfahren?Bild: AP

DW-WORLD:

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg will am Donnerstag sein definitives Urteil über die Klage des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan gegen die Türkei bekannt geben. Die Richter haben darüber zu entscheiden, ob Öcalan 1999 in der Türkei ein fairer Prozess gemacht worden war. Mit welchem Richterspruch rechnen Sie?

Rolf Gössner
Bild: Heide Schneider-Sonnemann

Rolf Gössner:

Ich gehe davon aus, dass die Türkei verurteilt wird, weil es kein faires Verfahren war, das 1999 in der Türkei stattgefunden hat. Das hat der Europäische Gerichtshof bereits im vorherigen Verfahrensabschnitt 2003 festgestellt. Ich hoffe, dass er sich in seinem Urteil auch zu zwei wesentlichen Punkten äußert, die er 2003 offen gelassen hatte. Zum einen zu den dubiosen Umständen der Entführung Öcalans im Februar 1999 aus Kenia und zum anderen zu den Vorwürfen der Isolationshaft, der Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali ausgesetzt ist, wo er als einziger Gefangener einsitzt. Bei beiden Punkten handelt es sich um mutmaßlich schwere Verstöße gegen das Völkerrecht und die europäische Menschenrechtskonvention.

Inwiefern war das Verfahren in der Türkei 1999 unfair?

Dieser Hochverratsprozess, der als "Jahrhundertprozess" bezeichnet wurde, ist in erstaunlicher Schnelligkeit über die Bühne gegangen - nicht gerade ein Indiz für Gründlichkeit. Geführt wurde der Prozess zudem von einem Gericht, das nicht als unabhängig bezeichnet werden kann, da ein Militärrichter daran beteiligt war. Durch die massive Einschränkung seiner Verteidigung und durch die Verhängung der Todesstrafe wurde Öcalan inhuman behandelt. Inzwischen ist die Todesstrafe ja in lebenslange Haft umgewandelt worden, aber die anderen Rechtstaatswidrigkeiten sind geblieben.

Sie waren als Beobachter des Öcalan-Revisionsverfahrens in Straßburg. Warum?

Das Revisionsverfahren im Juni 2004 (Das Urteil der kleinen Kammer des Gerichtshofes 2003, das Verfahren gegen Öcalan sei unfair, wurde von Öcalans Rechtsanwälte positiv gewertet, wenn auch als ungenügend. Deshalb legten sie 2004 Revision ein. Anmerkung d. Red.) ist von einer ganzen Reihe von Persönlichkeiten und Menschenrechtsorganisationen aus Europa und Südafrika beobachtet worden. Ich war für die "Internationale Liga für Menschenrechte" dabei. Es ging darum, auf internationaler Bühne deutlich zu machen, dass der Fall Öcalan nicht etwa Geschichte ist, sondern weit in die Gegenwart und Zukunft der Türkei und Europas hineinragt. Der Umgang mit diesem Fall ist ein Gradmesser für die Glaubwürdigkeit der türkischen Menschenrechtsentwicklung. Da die Türkei nicht von sich aus die notwendigen Bedingungen schafft, war der Weg nach Straßburg für die Verteidiger zwingend.

Sollte der Gerichtshof die Türkei verurteilen - wie wird sich Ihrer Meinung nach die türkische Regierung verhalten?

Prinzipiell ist die Türkei verpflichtet, Urteile des Europäischen Gerichtshofs umzusetzen. Allerdings gibt es für den Fall der Wiederaufnahme von Verfahren eine Einschränkung: Strafverfahren, die vor Anfang 2003 in letzter Instanz in der Türkei abgeschlossen worden sind - und Öcalan wurde ja bereits 1999 verurteilt - , sind davon ausgenommen. Hier spricht man sogar von einer "Lex Öcalan". Es wird harte Auseinandersetzungen um eine Neuverhandlung in der Türkei geben, insbesondere mit den nationalistischen Kräften. Entscheidend dafür, ob das Straßburger Urteil umgesetzt wird oder nicht, wird letztlich das Verhalten der EU im Vorfeld der Beitrittsverhandlungen sein. Es muss deutlich gemacht werden, dass ein solcher Spruch des höchsten europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Türkei umzusetzen ist. Es muss eine Neuverhandlung angesetzt werden unter Bedingungen, die einem fairen Verfahren entsprechen.

Inwiefern muss die EU auch weiterhin Druck ausüben?

Der Fall Öcalan muss bei den EU-Beitrittsverhandlungen berücksichtigt werden, insbesondere was die Haftbedingungen angeht. Nach gegenwärtigem Recht könnte Öcalan bis zu neun Jahre unter erschwerten Bedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali in Einzelhaft gehalten werden. Und die lebenslange Haft wird laut Gesetz bis zum Tode vollstreckt. Streng genommen ist das ja eine Hinrichtung auf Raten. Und Isolationshaft ist eine Methode, die dazu geeignet ist, Persönlichkeit und Willen von Gefangenen zu brechen. Deshalb wird diese Methode auch als weiße Folter bezeichnet.

Lesen Sie im zweiten Teil, welche Eindrücke Rolf Gössner zur Menschenrechtslage kürzlich bei einer Reise in die Türkei sammeln konnte.

Welche Forderungen stellen Sie an die Türkei?

Ich fordere im Namen der "Internationalen Liga für Menschenrechte" die sofortige Aufhebung der Isolationshaft, zweitens die Unterlassung aller Willkürhandlungen, die den Kontakt mit Familienangehörigen und Rechtsanwälten nach wie vor schwer beeinträchtigen. Darüber hinaus die Entsendung einer unabhängigen Ärztekommission, die sich um den schlechten Gesundheitszustand Öcalans kümmern sollte. Es geht aber nicht nur um den Fall Öcalan. Bei den Verhandlungen über den Beitritt der Türkei zur EU muss die Lösung der Kurdenfrage insgesamt einen ganz zentralen Platz einnehmen. Das ist nach wie vor ein brennendes Problem.

Sie haben kürzlich mit einer internationalen Delegation von Juristen die Türkei besucht, auch um sich über die Situation Öcalans zu informieren. Welche Eindrücke konnten Sie gewinnen?

Rolf Gössner
Bild: Heide Schneider-Sonnemann

Wir wollten uns einen persönlichen Eindruck von den Haftbedingungen auf der Gefängnisinsel Imrali verschaffen. Unser Besuchsantrag wurde aber vom Justizminister aus Sicherheitsgründen abgelehnt. Die Insel und die Zufahrtswege sind militärisches Sperrgebiet. Da gibt es kein Durchkommen. Wir konnten aber mit den Anwälten und Familienangehörigen Öcalans sprechen. Wir haben uns außerdem bei offiziellen Stellen und Nichtregierungsorganisationen über die Menschenrechtslage insgesamt informiert.

Und, hat die Situation sich verbessert?

Es gibt da viel Propaganda von Seiten der türkischen Regierung und auch eine gewisse Leichtgläubigkeit auf Seiten mancher Europäer. Leider hat sich nach unseren Erkenntnissen die Menschenrechtslage bislang noch nicht wesentlich verbessert. Es gibt zwar Anstrengungen, aber auch eine erhebliche Diskrepanz zwischen den Gesetzesreformen und der Umsetzung in der Praxis. Mentalität und Denken der türkischen Regierung und Behörden haben sich unseres Erachtens nicht grundlegend geändert. Die offizielle Politik ist weit davon entfernt, die Identität der Kurden anzuerkennen und sie mit gleichen Rechten und Freiheiten auszustatten. Nach wie vor werden Kurden unterdrückt, nach wie vor werden ihnen Grundrechte vorenthalten. Hier will ich noch einmal die Rolle der EU betonen. Die Menschenrechtsorganisationen in der Türkei sagen übereinstimmend, dass sie die EU-Beitrittsverhandlungen als historische Chance werten, die Menschenrechtslage zum Besseren zu wenden. Auch ich bin zu der Auffassung gelangt, dass gerade der Einfluss der EU für eine Verbesserung der Menschenrechtslage der wirksamste Faktor sein kann.

Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt und Publizist, ist seit 2003 Präsident der "Internationalen Liga für Menschenrechte", Mitherausgeber der Zweiwochenschrift für "Ossietzky" und des jährlich erscheinenden "Grundrechte-Reports: Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland".