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Faktencheck: Wie zählt man Menschen auf einer Demonstration?

Thomas Sparrow
24. Januar 2024

In allen Regionen Deutschlands haben in den letzten Tagen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und die AfD stattgefunden. Wie viele Menschen daran teilnahmen, ist jedoch umstritten. Wie lässt sich das herausfinden?

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Demonstration gegen Rechtextremismus und die AfD vor dem Reichstag
Zehntausende demonstrierten in Berlin mit Sicherheit gegen Rechts und die AfD. Aber ob es mehrere Hunderttausend waren?Bild: Thomas Imo/photothek/picture alliance

Dass es viele waren ist unstrittig. Doch wie viele Menschen haben nun wirklich an den zahlreichen Protesten gegen Rechtsextremismus in Deutschland teilgenommen? Die Teilnehmerzahlen gehen von einigen Hunderttausend bis 1,4 Millionen - je nachdem, wo man nachsieht oder wen man fragt.

Ähnlich sieht es in einzelnen Städten aus. In Berlin etwa sprachen die Organisatoren von 350.000 Demonstrierenden, während die Polizei auf etwas mehr als 100.000 kam. In München zählten die Behörden 100.000 Menschen, die Organisatoren 250.000.

Angesichts der Diskrepanzen haben Social-Media-User und rechte Politiker die Zahlen angezweifelt und Fragen darüber aufgeworfen, wie solch unterschiedliche Angaben zustande kommen. Und in der aufgeheizten Stimmung wurden sie benutzt, die Bedeutung der Proteste hervorzuheben oder auch sie herunterzuspielen.

Warum sind diese Zahlen so umstritten?

Rechtsextreme Politiker und Kommentatoren haben die Unterschiede zwischen den Demonstrierendenzahlen genutzt, um die Proteste zu delegitimieren - insbesondere eine Kundgebung in der norddeutschen Metropole Hamburg.

Die Versammlung wurde aus Sicherheitsgründen vorzeitig beendet, weil statt der angemeldeten 2000 Menschen mehrere Zehntausend gekommen waren. Auch hier sprachen die Veranstalter gegenüber dem öffentlich-rechtlichen Fernsehsender ZDF von 80.000 bis 100.000 Teilnehmern, die Polizei von 50.000.

Screenshot eines Tweets von Georg Pazderski zu Teilnehmerzahlen bei Demos
AfD-Mitglied Georg Pazderski behauptet auf X, ehemals Twitter: "Zahlen und Bilder werden gefälscht". Belege dazu liefert er nicht.Bild: Georg_Pazderski/X

Georg Pazderski, Mitglied und ehemaliger Funktionär der zumindest in Teilen rechtsextremen Partei Alternative für Deutschland, zitierte in einem X-Post unterschiedliche Berichte über die Demonstration mit Teilnehmerzahlen zwischen 30.000 und 130.000. Dann behauptete er, die "Zahlen und Bilder werden gefälscht" und sprach von einer "Inszenierung 'gegen RECHTS'". Ähnliche Behauptungen von anderen weit rechts stehenden Politikern hat das DW-Faktencheck-Team in den letzten Tagen bereits analysiert und entlarvt.

Warum gehen die Zahlen so weit auseinander?

Die Zahlen, die Polizei und Organisatoren für Demonstrationen anbieten, unterscheiden sich oft. In der deutschen Hauptstadt Berlin seien Diskussionen darüber "fast schon an der Tagesordnung", sagte Berlins Polizeisprecher Martin Halweg der Tageszeitung "Der Tagesspiegel".

Für Gewöhnlich sind die Unterschiede kleiner, aber eine echte Ausnahme sind die jüngsten Demonstrationen gegen Rechtsextremismus also nicht. Aber in diesem speziellen politischen und sozialen Kontext ist das Problem zum Teil aufgrund der schieren Anzahl von Protesten im ganzen Land offensichtlicher geworden. In nur wenigen Tagen fanden Demonstrationen an mehr als 100 Orten in ganz Deutschland statt, mit vollen Plätzen und Straßen in Großstädten und vielen Menschen, die kamen und gingen.

Demonstranten mit Plakaten: "München ist bunt"  protestieren gegen rechts und die AfD
An mehr als 100 Orten demonstrierten Menschen in den vergangenen Tagen, wie hier in München, gegen RechtsextremismusBild: Johannes Simon/Getty Images

Das macht es für Behörden und Organisatoren besonders schwierig zu bestimmen, wie viele Personen genau erschienen sind. Experten betonen, dass es sich bei solchen Angaben nur um ungefähre Schätzungen oder grobe Berechnungen handelt, die auf verschiedenen Methoden basieren.

Auch die Interessen derer, die die Zahlen ermitteln, können dabei eine Rolle spielen. Die Schätzungen der Polizei fallen meist vorsichtiger aus als die der Organisatoren. Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung kommt zu dem Schluss, dass "für Organisatoren politischer Protestveranstaltungen die vergleichende Quantifizierung immer eine Form der Erfolgskontrolle ist". Sprich: Die Menge der Teilnehmer ist ein Gradmesser für die Relevanz eines Protests und den Erfolg der Organisatoren.

Wie werden die Zahlen der Demonstranten berechnet?

Eine Methode für große Demonstrationen ist die Analyse von Luftbildern, die von Drohnen oder aus Hubschraubern aufgenommen werden. Dabei wird eine durchschnittliche Anzahl von Personen pro Quadratmeter geschätzt, die dann auf die per Luftbild ermittelte Gesamtfläche hochgerechnet wird. Inzwischen gibt es auch Software, die solches Videomaterial auswertet, um Teilnehmerzahlen zu ermitteln.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, Personen manuell zu zählen. In Berlin hat die Organisation Fridays for Future, die den dortigen Protest mitorganisiert hat, dafür laut "Tagesspiegel" Helfer an bestimmten Orten positioniert. Doch auch diese Methode hat ihre Tücken, wie die Sprecherin der Bewegung, Samira Ghandour, sagte: "Es gab keinen Anfang und kein Ende." Zudem wurden die Menschen in Seitenstraßen umgeleitet.

Dies zeigt auch eine grundlegenden Herausforderungen bei der Schätzung von Teilnehmerzahlen: Wann, wo und wie sind diese Berechnungen durchzuführen?

Zu Beginn einer Demonstration erhält man unter Umständen ein anderes Ergebnis als mittendrin. Ebenso variieren die Zahlen je nachdem, ob man sich auf den zentralen Protestort beschränkt oder auch Menschen am Rande oder gar in einiger Entfernung einbezieht.

Eine unüberschaubare Menschenmasse mit Plakaten tummelt sich vor einer Bühne an der Binnenalster in Hamburg
Demo in Hamburg: Schwer zu schätzen, wie viele Menschen genau teilnahmen. Experten plädieren dafür, Größenordnungen statt Zahlen anzugeben.Bild: epd-bild/picture alliance

Vor diesem Hintergrund mahnen Experten immer wieder, dass es wichtig ist zu verstehen und zu kommunizieren, dass es sich um ungenaue Schätzungen handelt. Deshalb empfiehlt zum Beispiel Stephan Poppe von der Universität Leipzig, überhaupt keine exakten Zahlen zu verwenden, sondern stets eine Spanne anzugeben. Dem Bayerischen Rundfunk sagte er, das sei "ehrlicher" und "wichtig für den politischen Diskurs".

Silja Thoms hat zu diesem Bericht beigetragen.