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Europaminister für Gerichtshof-Reform

18. Februar 2010

Auf Einladung der Schweiz beraten in Interlaken die Europaratsländer die Zukunft des Gerichtshofs für Menschenrechte. Das Straßburger Gericht ist in der Welt einzigartig - und inzwischen Opfer seines großen Erfolges.

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Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (Foto: AP)
Der Gerichtshof für Menschenrechte wurde 1959 geschaffenBild: AP

An der zweitägigen Konferenz (18./19.02.2010) auf Initiative des Schweizer Vorsitzes im Ministerkomitee des Europarates wird aus Deutschland Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) erwartet. Angestrebt wird eine politische Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Effizienz des Gerichtshofes zu garantieren.

Denn von den rund 800 Millionen Bürgern der 47 Europaratsstaaten haben in den letzten zehn Jahren bereits über 200.000 von ihrem verbrieften Recht auf Individualklage vor dem Gerichtshof Gebrauch gemacht, weil sie sich durch Entscheidungen ihrer nationalen Regierung oder Behörden in ihren grundlegenden Menschenrechten verletzt fühlen.

Luzius Wildhaber (Foto: AP)
Luzius Wildhaber war von 1998 bis Januar 2007 Präsident des GerichtshofsBild: AP

Der Präsident des Gerichtshofes, der Franzose Jean Paul Costa, hat der Interlaken-Konferenz Reformvorschläge unterbreitet, mit der die immer dramatischere Überlastung des Gerichtes abgebaut werden soll - ohne dass dadurch das Grundrecht auf Individualklage eingeschränkt wird. Schon Costas 2007 ausgeschiedener Vorgänger, der Schweizer Luzius Wildhaber, hatte sich bemüht, den Arbeitsanfall für die 17 Straßburger Richter zu reduzieren.

In seinem letzten Jahr als Gerichtspräsident seien in Straßburg 50.000 Beschwerden eingereicht worden, erinnert sich Wildhaber. Neun von zehn waren unzulässig, "weil sie offensichtlich unbegründet waren, gestützt auf Rechte, die in der Konvention gar nicht genannt waren".

Noch immer 100.000 unentschiedene Fälle

Michail Chodorkowskij (Foto: AP)
Über 30.000 Beschwerden kamen aus Russland seit Ende des Kalten KriegesBild: AP

Trotz dieser Bemühungen sind inzwischen in Straßburg über 100.000 unentschiedene Fälle anhängig, viele davon schon seit über zwei Jahren. Einen kleinen Reformfortschritt kann Präsident Costa in Interlaken verkünden: Über die Ablehnung offensichtlich unbegründeter Beschwerden muss künftig nicht mehr eine der drei Kammern des Gerichtshofes beraten, sondern sie kann auch durch einen Einzelrichter entschieden werden. Über diese und einige weitere Maßnahmen zur Straffung der Abläufe im Gerichtshof wurde bereits seit sechs Jahren diskutiert. Doch erst im Januar gab Russland als letzter der 47 Mitgliedsstaaten des Europarates seine Zustimmung.

Die Hauptverantwortung für eine Entlastung des Europäischen Gerichtshofes liegt allerdings nicht in Straßburg, sondern bei den Mitgliedsstaaten. Zwei Drittel der derzeit anhängigen Beschwerden kommen aus den 21 osteuropäischen Staaten, die nach Ende des Kalten Krieges in den Europarat aufgenommen wurden, davon allein über 30.000 aus Russland. Für Ex-Präsident Wildhaber ist das keine Überraschung: bei Staaten, in denen die Bürger ihrer Gerichtsbarkeit häufig nicht trauten und die in Straßburg häufig Recht bekämen oder solchen mit "vielen ungelösten Problemen".

Probleme auch in Deutschland

Die Probleme unzureichender nationaler Rechtssysteme und Verfahren liegen zwar überwiegend, aber nicht ausschließlich in Osteuropa. Italien etwa ist das Land mit der längsten Dauer von Gerichtsverfahren. Und auch Deutschland und andere EU-Staaten setzen Urteile des Straßburger Menschengerichtshofes manchmal nur unzureichend oder nur mit erheblicher Verzögerung um.

Man darf gespannt sein, wie die westlichen Demokratien unter den Mitgliedern des Gerichtshofes auf den Vorschlag von Präsident Costa in Interlaken reagieren werden, wonach mit Blick auf ein bestimmtes Land ergangene Urteile aus Straßburg künftig automatisch auch Rechtskraft erhalten sollen für vergleichbare Streitfragen in den anderen 46 Staaten des Europarats.

Autor: Andreas Zumach

Redaktion: Michael Borgers