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Europaverdossenheit

Kerstin Schweighöfer7. Januar 2007

Von den Mustereuropäern zu Europaverdrossenen. Nach dem gescheiterten Referendum über die EU-Verfassung will in den Niederlanden fast niemand mehr über Europa reden. Eine gesellschaftliche Debatte blieb bislang aus.

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Zwei Kühe mit Protestplakaten auf dem Rücken (Quelle: AP)
Die Niederlande - keine Lust mehr auf EuropaBild: AP

Bas van Vliet verkauft seit zwölf Jahren auf dem Hollandmarkt Herrenhosen in allen Formen und Farben. Der Hollandmarkt gilt als größter Markt Europas und liegt im Schilderswijk in Den Haag - einem ehemaligen Arbeiterviertel, in dem nun überwiegend Immigranten wohnen. In den letzten Jahren konnte der Schilderswijk vorbildlich saniert werden. Brüssel hat dafür 30 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Auch das große schmiedeeiserne Gitter rund um das Marktgelände wurde von der EU subventioniert.

Doch die wenigsten Markthändler wissen das. Auch Bas hört es zum ersten Mal: "Das Gitter? Das haben wir doch mit den wahnsinnig hohen Standgebühren finanziert, die wir hier alle zahlen müssen!" Mit Europa hat der 33-Jährige nicht viel am Hut. Darüber rede seit dem "Nein" der Niederländer gegen die europäische Verfassung niemand mehr.

Den Haag könnte im Abseits landen

Wahlen in den Niederlanden, Den Haag, Binnenhof
Weitblick oder Schlüssellochperspektive? Die Haltung der Niederländer könnte ihnen selbst schadenBild: picture-alliance/dpa

Bei dem Referendum vor knapp eineinhalb Jahren hatten 61 Prozent der Wähler "nee" gestimmt. "Das war gut so", findet Bas. Europa sei ihm viel zu groß geworden. Blas ist für die Abschaffung des Euros. In seiner Hosentasche trägt er immer noch einen blauen zehn-Gulden-Schein. "Ist der nicht wunderschön!", schwärmt er.

Der christdemokratische Ministerpräsident Jan Peter Balkenende hatte nach dem Referendum eine große gesellschaftliche Debatte über Europa angekündigt - doch die blieb bislang aus. An Europa will sich keiner mehr die Finger verbrennen. Europarlamentarier, Politikwissenschaftlicher und Arbeitgeberverbände sind entsetzt. Sie sprechen von einer "gefährlichen Passivität": Den Haag könne in Brüssel weiter an Einfluss verlieren und endgültig im Abseits landen. "Wer so viel Handel im Ausland treibt wie wir", warnte ein Kommentator, "muss weiter sehen als seine Nase reicht."

Niederländer galten lange Zeit als Mustereuropäer

Lange Zeit war es genau umgekehrt: Die Niederländer galten als Mustereuropäer - allerdings völlig unkritisch und mit einer rosaroten Brille auf: Europa war gut, so das Credo, denn Europa hatte den Vorteil des freien Handels. Es gab zwar immer wieder Kritik an der Brüsseler Bürokratie und Verschwendungssucht. Doch das konnte der Europa-Euphorie keinen Abbruch tun.

Statt dessen sonnten sich die Niederländer in ihrer Vorbildrolle: "Wir waren heilig davon überzeugt, dass bei uns vieles weitaus besser geregelt war als im Rest Europas", sagt der Amsterdamer Kulturphilosoph Ad Verbrugge: "Prostitution, Sterbehilfe, Abtreibung und unsere Drogenpolitik. Wir kamen uns vor wie Missionare. Wir waren das Land, das die frohe Botschaft verbreitete. Dafür setzten wir uns ein."

Nichts mehr von Europa-Euphorie übrig

Internationales Klientel auf dem Albert Cuypmarkt
Der Albert Cuypmarkt in AmsterdamBild: picture-alliance / HB Verlag

Inzwischen mussten die Niederländer ernüchtert feststellen, dass nicht alle Länder Wert darauf legen, missioniert zu werden. Statt dessen gerieten sie selbst wegen ihrer europäischen Alleingänge immer mehr ins Kreuzfeuer der Kritik, vor allem in Sachen Drogenpolitik.

Zweitens taten sich ausgerechnet die Niederländer als alte Handelsnation schwerer mit dem Euro als die anderen EU-Länder: Nirgendwo sonst rechneten so viele Bürger noch so lange in die alte Währung um. Auch die Tatsache, dass die Niederlande zu den Netto-Zahlern in Brüssel gehörten, wurde zum nationalen Ärgernis. Gleichzeitig stieg die Angst: Denn in einem wachsenden Europa sahen die Niederländer ihren eigenen Einfluss immer marginaler werden - den von Brüssel aber immer größer:

Rückfall ins 16. Jahrhundert?

"Eigentlich ist es so wie im 16. Jahrhundert, als wir gegen die spanische Vorherrschaft aufbegehrten: Auch damals hatten wir Angst, bestimmte Errungenschaften aufgeben zu müssen", meint Ad Verbrugge. "Auch damals fanden wir, dass zu viel von außen bestimmt wurde und dass wir zuviel Geld zahlten."

Hinzu kamen die Attentate auf den rechtspopulistischen Politiker Pim Fortuyn und den islamkritischen Regisseur Theo van Gogh. Sie haben das Land in eine Identitätskrise gestürzt, die noch immer nicht bewältigt ist. Verunsichert zogen sich die einstigen Mustereuropäer hinter ihre Deiche zurück; von der einst so weltoffenen Nation scheint nicht viel übrig geblieben zu sein. "Wir sind ins Nabelstarren verfallen", bestätigt auch Henk Kool, Wirtschafts- und Sozialdezernent der Stadt Den Haag: "Europa übersteigt das Begriffsvermögen vieler Leute, es ist ihnen zu groß geworden. Auch die Menschen hier im Schilderswijk sehen sich zuallererst als Schilderswijker, dann als Haager und dann als Holländer. Und dann hört es auf."