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Europa versteht Lateinamerika nicht

4. Mai 2010

Der mexikanische Krimiautor Paco Ignacio Taibo II auf Lesereise in Deutschland.

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Paco Ignacio Taibo II (Foto: AP)
Paco Ignacio Taibo IIBild: AP

Fünfzehn seiner Krimis und Romane sind auf Deutsch erschienen. Paco Ignacio Taibo II hat in Deutschland längst eine Fangemeinde, und jede Lesereise nach Deutschland ist auch ein Wiedersehen mit seinen Lesern. Dabei trifft Taibo II immer wieder auf ein "sehr verzerrtes Bild von Mexiko", das nicht aus seinen Büchern stammen kann, fügt er schmunzelnd hinzu. Doch gleich darauf wird er wieder ernst. "Das ist aber normal. Selbst wir Mexikaner haben ein verzerrtes Bild von unserem Land. Was über die Medien transportiert wird, sind ja nur die Spitzen von Eisbergen, Meldungen, die mit Verbrechen, Katastrophen, schrecklichen Ereignissen zu tun haben." Dabei versuche er in seinen Büchern über das zu schreiben, was den gesamten Eisberg ausmacht, über das, was sich unter der Oberfläche abspielt. "Ich lebe in einer sehr vielfältigen Stadt, in der die Erste und die Dritte Welt aufeinandertreffen", sagt Paco Ignacio Taibo II über Mexiko. "Dort werden mehr Abtreibungen vorgenommen als in London, da gibt es mehr Kinos als in Paris, mehr Studenten als in New York und wir haben die korrupteste Polizei der Welt, schlimmer noch als in Thailand. Und außerdem mehr Bürokraten als in Berlin."

Blick auf Mexiko Stadt
Die Megacity Mexico Stadt ist der Schauplatz von Taibos KrimisBild: AP

Literatur fängt da an, wo Journalismus versagt

Er habe es sich zur Aufgabe gemacht, diese Komplexität darzustellen, sagt der 1949 in Spanien geborene Autor, der im Alter von acht Jahren mit seinen Eltern nach Mexiko kam. Sein eigener Werdegang ist ebenso komplex wie die Stadt, in der er groß geworden ist und die ihn geprägt hat. Er studierte Literatur, Soziologie und Geschichte – ohne einen Abschluss zu machen. Er arbeitete zunächst als Journalist, Universitätsdozent und Sachbuchautor, bevor er dank des Erfolgs als freier Schriftsteller leben konnte.

"Die Literatur hat sich als Instrument der Enthüllung herausgestellt", beschreibt er seinen Zugang zur Schriftstellerei. "Wenn Politik, Wirtschaft und Journalismus versagen, dann kommt der Moment der Literatur. Denn die Literatur geht in die Tiefe, sie ist intensiver als die Informationshäppchen, mit denen wir täglich gefüttert werden, und die aus dem Zusammenhang gerissen sind. Die Literatur eröffnet einen vielschichtigeren Blick auf eine komplexe Gesellschaft."

Zusammenhänge herstellen

Die Literatur räumt auf, so seine Überzeugung. Und genau das bräuchten die Menschen in Mexiko, in einer vom Fernsehen beherrschten Gesellschaft. "Die Verzerrung der Realität durch das Fernsehen ist brutal und es fällt den Menschen schwer sich ein Bild vom Ganzen zu machen, zu verstehen, wo sie leben und vor allem einordnen zu können, was gerade passiert und warum die Dinge geschehen."

Ordnen, Puzzleteile zusammenfügen, Zusammenhänge herstellen zwischen Ereignissen, die von den Medien als isolierte Phänomene dargestellt werden, darin sieht der Schöpfer des "unabhängigen" Detektivs Hector Belascoarán Shayne seine Aufgabe. "Wenn in den Außenbezirken von Mexiko Stadt eine Straße überflutet wird, dann hängt das nicht nur mit dem Klimawandel zusammen, sondern auch mit der Korruption von Politikern, die in undurchsichtige Geschäfte verwickelt sind und Straßen mit drittklassigem Baumaterial bauen lassen."

Magische Realität

Der magische Realismus eines García Márquez, der in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland der Inbegriff für Literatur aus Lateinamerika war, sei seine Sache nicht, betont Paco Ignacio Taibo II. "Ich praktiziere die Magie der Realität. Unsere Wirklichkeit ist voller absurder, surrealer und chaotischer Elemente und Ereignisse, wie zum Beispiel die Bauern aus dem Umland von Mexiko Stadt, die versucht haben die Statue des Tlaloc (der Regengott der Azteken) aus dem Anthropologischen Museum zu stehlen, weil sie sagen, man hätte ihnen den Regen gestohlen."

Literarischer Exotismus

Subcomandante Marcos, Anführer der zapatistischen Rebellen in Mexiko
Taibos Ko-Autor und Revolutionär: Sub Comandante MarcosBild: AP

Aufräumen, Dinge ordnen und Zusammenhänge herstellen, das war auch das Anliegen des Krimis "Unbequeme Tote – ein vierhändiger Roman", den Paco Ignacio Taibo II gemeinsam mit dem Anführer der Zapatisten, Subcomandante Marcos, geschrieben hat." Über dieses einzigartige literarische Experiment sagt Taibo, "das war ein absolut exotisches Abenteuer. Ein Anführer einer bewaffneten bäuerlichen indigenen Bewegung mitten im Urwald von Chiapas, der zusammen mit einem Krimiautor ein Buch schreibt…".

Darin schickt Taibo seinen Detektiv Héctor Belascoarán Shayne auf die Suche nach einem vermeintlich ermordeten Oppositionellen, der sich plötzlich telefonisch und quicklebendig meldet. Marcos steuert seinerseits den Indiodetektiv Elías Contreras bei, der auf der Suche nach einem gewissen Morales ist. Dieser soll in schmutzige Geschäfte bezüglich eines Naturschutzgebietes in der Zapatistenregion verwickelt sein. Aus beiden Fällen wird schließlich einer, der in der Zeit des Schmutzigen Krieges in Mexiko spielt.

Dazu Paco Ignacio Taibo II: "Der Krimi ist ein großartiges Genre um politische Soziologie zu betreiben. Das Verbrechen entlarvt die Verhaltensweisen der Gesellschaft."

Der Geschichte(n)erzähler

Neben Krimis hat Taibo auch zahlreiche Biographien verfasst, zuletzt über Pancho Villa und Che Guevara. Ordnen, einordnen, das ist auch hier wieder Taibos Hauptanliegen. "Ich habe den Che wieder mit beiden Füßen auf die Erde gestellt." Der argentinische Arzt sei nicht als kubanischer Revolutionär geboren worden, sondern durch seine Biographie dazu geworden, betont Taibo. "Man muss den Che in seinem jeweiligen Kontext verstehen, und den habe ich ihm wiedergegeben. Es ist nicht das gleiche, ob er 1964 als kubanischer Industrieminister redet, oder im bolivianischen Dschungel Tagebuch führt, während er unter einem entsetzlichen Durchfall leidet, sein Asthma ihn fast umbringt, und er von der Armee gejagt wird. Man muss sein Sätze im Kontext lesen. Ich habe nichts anderes getan, als die Geschichte so zu erzählen, wie sie sich zugetragen hat."

Ernesto Che Guevara
Ernesto Che Guevara erklärt sich aus seinem Kontext, sagt TaiboBild: AP

Und dann stellt sich für Taibo die Frage, was aus der Geschichte geworden ist, wohin die Weichenstellungen der Vergangenheit geführt haben. Aktuell sei diese Frage gerade in diesem Jahr, in dem Lateinamerika die 200jährige Unabhängigkeit von Spanien feiere, und Mexiko darüber hinaus auch das 100jährige Jubiläum der Revolution. "Die ewige Frage in diesem Zusammenhang lautet doch, wer will uns die errungene Freiheit wieder nehmen? Allen voran die Söldner, die in unseren Regierungen sitzen, die sich aufspielen wie dumme Kinder des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, wie Lehrlinge aus der Schule des barbarischen Spätkapitalismus. Die bereit sind, die Ressourcen, die uns die Unabhängigkeit ermöglichen würden, im Namen des kurzfristigen Gewinns, oder der Korruption, in die Hände jedes beliebigen ausländischen kapitalistischen Angebots zu geben, das ihnen über den Weg läuft."

In den linken Regierungen Lateinamerikas, mit Ausnahme Mexikos, Kolumbiens und jetzt auch Chiles, sieht Taibo die Antwort auf diese Entwicklung. "Die Menschen haben die Nase voll von neoliberaler Wirtschaftspolitik, und suchen einen anderen Weg um diese vergifteten Prozesse aufzuhalten." Das werde in Europa gerne unter Linksruck verbucht, so Taibo, aber die alte Welt "tut sich sehr schwer damit, Lateinamerika wirklich zu verstehen. Das ist ein Problem von mangelnder Information. Wir werden zu Empfängern von oberflächlichen Details ohne Zusammenhang degradiert."

Aus diesen Details entwickelt Paco Ignacio Taibo II seine Romane: "Je älter ich werde, desto mehr habe ich das Gefühl, dass die Literatur alles ordnet, dass sie die große Geschichtenerzählerin ist. Ich bin gerne Geschichtenerzähler."

Autorin: Mirjam Gehrke
Redaktion: Oliver Pieper