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Europas Wege aus der Krise

Ralf Bosen4. April 2012

Die Euro-Finanzkrise beherrscht weiterhin die Schlagzeilen, aber die Europäische Union steht noch vor weiteren großen Problemen. Und deren Lösung wird nicht einfacher.

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Symbolbild Pfeil Richtung Straße rechts gerade aus links (Foto: Fotolia)
Bild: Fotolia/Nico Vincentini

Nach zahlreichen Krisengipfeln, Treffen auf Ministerebene und Erweiterungen der Rettungsschirme scheint es so, als ob zumindest die schlimmste Phase der Finanzkrise in der Europäischen Union (EU) überwunden ist. Entsprechend vorsichtig optimistisch äußerten sich Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) Mario Draghi. Dennoch gibt es für die EU keine Entwarnung. Viele Politiker und EU-Experten sind sich bewusst, dass nach der aktuellen Krise vor der nächsten Krise ist.

Hinter verschlossenen Türen räumen nicht wenige EU-Beamte ein, dass das Euro-Debakel nur an der Oberfläche tiefer liegender Probleme gekratzt habe. Die wirkliche Krise in Europa ist nicht rein wirtschaftlicher und finanzieller Natur, sondern hat vielmehr tiefere soziale und politische Gründe.

Schuldenkrise: Selbstmord in Athen

Ein Grund dafür ist, dass die Union von außen betrachtet einem Flickenteppich ähnelt, der sich aufteilt in Nord und Süd, große und kleine Mitgliedsstaaten, Gläubiger- und Schuldner-Länder. Außerdem haben das internationale Ansehen und die Attraktivität der EU darunter gelitten, dass es ihr so schwerfällt, glaubwürdige Lösungen für die finanziellen und politischen Probleme zu finden. Besonders kritisch eingestellte Journalisten aus dem Ausland beschreiben Europa deshalb gern als Kontinent im Niedergang, mit einer alternden Bevölkerung und in Sorge um sein überholtes Sozialmodell.

Klare Führungsstruktur in Brüssel

Der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski sieht jedoch auch Chancen in dieser Krise. Um sie zu nutzen, müssten die vorhandenen Ressourcen und Fähigkeiten der EU nur besser strategisch eingesetzt werden. Er fordert eine engere politische Zusammenarbeit innerhalb der EU. "Was wir brauchen ist eine klare Führungsstruktur und Wahlen, um politische Führer zu bestimmen. Im Moment sind wir aber wie eine multilaterale Institution aus kooperierenden Staaten organisiert", sagt Sikorski."

Ein Foto von Radoslaw Sikorski (Foto: DW)
Der polnische Außenminister Radoslaw SikorskiBild: DW

Um das zu ändern, wäre es sinnvoll, die Ämter des Vorsitzenden der Europäischen Kommission und des Präsidenten des Europäischen Parlaments zu vereinen. Der künftige Amtsinhaber könne dann eventuell per Direktwahl von den Bürgern Europas  gewählt werden. Entscheidungen würden so schneller gefällt und umgesetzt, meint der polnische Außenminister. Der Vorschlag Sikorskis wäre ein weiterer Schritt in Richtung einer politischen Union, die bereits im Maastricht-Vertrag von 1992 versprochen wurde.

Zu den bekanntesten Verfechtern einer politischen Union gehört auch Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker, der auch Chef der Euro-Gruppe ist - der 17 EU-Staaten, die den Euro eingeführt haben. Juncker glaubt, dass das unzureichende Maß an politischer Integration und europäischer Solidarität der entscheidende Risikofaktor für den Euro sei.

Ein Soldat der Bundesmarine blickt an Bord der Fregatte Brandenburg durch ein Fernglas auf das Meer (Foto: dpa)
EU-Soldaten auf Piratensuche: Mission "Operation Atalanta" am Horn von AfrikaBild: picture-alliance/ dpa

Eine engere politische Zusammenarbeit wird Sikorskis Meinung zufolge auch den außenpolitischen Einfluss der EU stärken. Als Beispiel nennt er das militärische Potential Europas. "Vorausgesetzt, wir hätten eine funktionierende politische Union, dann würde die EU über zwei Millionen Soldaten und Nuklearwaffen verfügen", so Sikorski und fügt hinzu, "Soweit ich weiß, wäre der gemeinsame Verteidigungshaushalt größer, als der von China, Indien und Russland zusammen genommen." 

Noch treibt aber vor allem die Finanzkrise einen Keil in die europäische Gemeinschaft. Die Solidarität und das gemeinsame Projekt eines zusammenwachsenden Europas haben durch das Schuldendebakel an Zugkraft verloren. Schlimmer noch: Im Verlauf der Rettungsaktionen für Griechenland sind Vorurteile zwischen Nord- und Südeuropa verstärkt worden. Das Misstrauen der wirtschaftlich dynamischen Länder des Nordens gegenüber den Ländern des Südens mit einem geringen Bruttoinlandsprodukt hat zugenommen.

Dennoch glaubt der Vorsitzende der FDP-Gruppe im EU-Parlament und außenpolitische Experte, Alexander Graf Lambsdorff, dass das "Nord-Süd-Gefälle" überbewertet wird. Er sieht die Solidarität in der EU noch nicht ernsthaft gefährdet. Als Beispiel nennt er Estland, das 2004 in die EU aufgenommen wurde. "Estland hat ein niedrigeres Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als Griechenland, aber die Regierung hat ihre Bürger trotzdem aufgefordert, für die Stabilisierung der griechischen Wirtschaft zu zahlen. Und ich kann mir bis auf Finnland kein Land vorstellen, dass nördlicher liegt", so Lambsdorff.

Ein Foto von Alexander Graf lambsdorff
Alexander Graf LambsdorffBild: picture-alliance

Agenda 2010 als Beispiel

Polens Außenminister Sikorski argumentiert ähnlich. Der liberalkonservative Politiker ist der Überzeugung, dass die Unterschiede zwischen Nord- und Südeuropa nicht wie ein Naturgesetz unverrückbar, sondern veränderbar seien. Letztlich mache die Politik den Unterschied aus, nicht die geographische Lage eines Landes. Sikorski verweist auf die Agenda 2010 in Deutschland - das Konzept zur Reform des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarktes, das in den Jahren 2003 bis 2005 von der aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen gebildeten Bundesregierung weitgehend umgesetzt wurde. "Wenn es die Reformen des früheren Bundeskanzlers Schröder nicht gegeben hätte und das deutsche Bankensystem schwächer gewesen wäre, dann würden wir heute möglicherweise eine Diskussion über die Finanzkrise in Deutschland führen", sagt Sikorski.

Was der EU-Administration wirklich Sorgen macht, ist nicht die Geographie, sondern die Demografie. Das statistische Amt der Europäischen Union, EUROSTAT, sagt voraus, dass in der EU bereits im Jahr 2050 48 Millionen weniger Menschen im erwerbsfähigen Alter leben werden. Stattdessen wird es 58 Millionen mehr Menschen über 65 Jahre geben. Bleibt es beim Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, sinkt laut Experten das Wirtschaftswachstum. Die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme, der Renten und der Versorgung im Gesundheitsbereich wären gefährdet.

Chance durch Zuwanderung

Graf Lambsdorff geht davon aus, dass sich wegen des demographischen Wandels in der EU vor allem der Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte verstärken wird. "Dann muss man auch über die Grenzen Europas schauen. Vor unserer Haustür gibt es zahlreiche junge Menschen, die auf eine Chance warten, ihr Leben hier zu gestalten." Die große Herausforderung werde es dabei sein, die Zuwanderung in die EU so zu gestalten, dass sie "produktiv für die Gesellschaft" sei. Der Umgang mit der Zuwanderung ist für ihn ein wesentlicher Schlüssel für den Erfolg der Union. Mit der Migration eng verbunden ist auch die Flüchtlingspolitik der EU - auch sie sorgt seit Jahren für Streit und steht auf dem Prüfstand.

Menschen winken mit polnischen und Europafahnen bei den Feiern zum EU-Beitritt auf dem Zamkowy-Platz in Warschau. (Foto: dpa)
Der 1. Mai 2004: Polen feiern den EU-BeitrittBild: picture-alliance/dpa

Eine politische Union, eine effizientere Ressourcennutzung, eine verbesserte Einwanderungspolitik - all dies könnte Europa fit für die Zukunft machen. Als weitere Erfolgskomponente gilt sowohl für Sikorski als auch Graf Lambsdorff die Aufnahme weiterer Mitglieder in den exklusiven EU-Klub. Mit Hilfe der Erweiterung könnte die Europäische Union in der Lage sein, Macht und Einfluss zu wahren und neue Potentiale zu erschließen. "Unser Vorteil gegenüber den USA ist, dass wir kein territorial abgeschlossenes Projekt sind; dass wir offen sind für die Aufnahme weiterer Länder", sagt Radoslaw Sikorski. "Das Versprechen der Erweiterung ist eines unserer wirksamsten Werkzeuge."