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Es ist, wie es ist

Peter Philipp1. Dezember 2002

Vor einem Jahr wurde auf dem Petersberg bei Bonn ein Abkommen geschlossen, das Afghanistan Frieden und Demokratie bringen sollte. Nächste Woche soll an gleicher Stelle Bilanz gezogen werden.

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Trümmer lassen sich nicht über Nacht beseitigenBild: AP

Der Nachholbedarf in Afghanistan ist wahrscheinlich viel größer, als man es sich in den Vereinten Nationen und auch bei den verschiedenen Geberstaaten vorgestellt hatte, als man die Verpflichtung einging, beim Wiederaufbau eines neuen Afghanistans zu helfen. So wurden nahezu zwei Milliarden Dollar für solche Projekte zugesagt. Nur ein verschwindend kleiner Bruchteil dieser Gelder – knapp 90 Millionen – ist aber bislang bei der afghanischen Regierung eingetroffen. Deshalb hat sie so manches ambitionierte Projekt vorerst zurückstellen müssen.

Gleichwohl weiß man in Kabul aber auch, dass hier nicht gegebene Zusagen gebrochen werden, sondern dass der größte Teil des Geldes projektgebunden den verschiedensten Organisationen zur Verfügung gestellt wird, die im zurückliegenden Jahr ihre Aktivitäten in Afghanistan wieder aufgenommen und intensiviert haben. Eine Kanalisierung dieser Gelder über die afghanische Regierung würde vermutlich in manchen Fällen zu Verzögerungen führen und vielleicht auch zu Zweckentfremdung.

Machtkampf im macht-geteilten Land

Ein weiteres Problem, das dem Land wohl auf absehbare Zeit erhalten bleiben wird, ist die Tatsache, dass die Zentralregierung in ihrer Macht weitgehend auf die Hauptstadt Kabul beschränkt ist und dass sie in den Provinzen auf die Zusammenarbeit mit den traditionellen Regionalherrschern angewiesen ist – unter ihnen die alten "warlords", die das Land schon so oft ins Verderben gestürzt haben.

Dieses System ist nicht neu in Afghanistan und es wäre sehr, wenn nicht zu revolutionär, wollte Hamid Karzai es jetzt grundlegend verändern. Er hätte damit keinen Erfolg, denn seine Regierung besteht aus einem diffizilen Zusammenspiel der verschiedenen Volksgruppen des Landes, mit einem Übergewicht der Vertreter der früheren "Nordallianz". Alle Ethnien, Religions- und Interessengruppen wachen tunlichst darüber, dass ihre Macht und ihr Einfluss nicht eingeschränkt werden. Außerdem gibt es natürlich weiterhin die Sympathisanten mit den Taliban.

Die Taliban sind noch im Gedächtnis - und nicht nur dort

Je länger die erfolglose Jagd der Amerikaner auf "El Kaida" andauert, je weniger sich auch der generelle Lebensstandard der Afghanen verbessert, desto erfolgreicher werden Demagogen es wohl verstehen, dem einfachen Volk vorzugaukeln, dass es unter den Taliban so schlimm doch gar nicht gewesen sei.

Um solchen Entwicklungen entgegenzuwirken, müssen all die Staaten und Organisationen, die Afghanistan wirklich helfen wollen, zunächst einmal den wahnwitzigen Traum begraben, dass dies ein moderner und säkularer Staat werden wird. Hierzu sind Religion und Tradition in der Bevölkerung viel zu tief verwurzelt. Und wie in der Vergangenheit: Westliche Lebensart wird bestenfalls von der Kabuler Bourgeoisie angestrebt, nicht aber von den einfachen Leuten. Sie waren es auch, die in der Vergangenheit die eigenen Reformer stürzten oder vertrieben und die den Sowjets Widerstand leisteten. Nicht nur wegen der Besatzung, sondern auch wegen ihrer antireligiösen Ausrichtung.

Karzais Kompromisse

Nur so sind vermutlich die Kompromisse zu verstehen, die Karzai bereits eingegangen ist und die unter anderem in der westlichen Provinzhauptstadt Herat dazu geführt haben, dass ein Teil der Taliban-Gesetze wieder eingeführt wurden. Und es kommt sicher nicht von ungefähr, dass der Staat sich demonstrativ "Islamische Republik Afghanistan" nennt.

Einer Ausweitung der Autorität der Zentralegierung auf das ganze Land oder wenigstens dessen wichtigste Gegenden ist vor diesem Hintergrund eine der vorrangigsten Aufgaben für die nächste Zukunft. Und hierbei spielt der Ausbau guter Verbindungsstraßen eine wichtige Rolle, mehr aber noch die Gewährleistung eines Minimums von Sicherheit. Je früher die verschiedenen Kriegsherren entmachtet und auf politische Provinzherrscher reduziert werden können, desto besser. Hierzu benötigt die Zentralregierung aber eine funktionsfähige und engagierte Armee und hieran fehlt es noch.

Die Rolle der ISAF

Es kann keine Lösung sein, dass das Ausland – wie in letzter Zeit immer öfter von Kabul gefordert – den Einsatzbereich der "ISAF" auf andere Teile des Landes ausweitet. Hiermit übernähme man ungewollte Aufgaben, die in jedem souveränen Staat der zentralen Regierung zustehen – und nur ihr. Und man übernähme sich ganz eindeutig: Schon heute dürfte die "ISAF" nicht in der Lage sein, bei ernsthaften Problemen in Kabul für Ruhe und Sicherheit zu sorgen. Ein Grund für die USA, den Personenschutz für Karzai amerikanischen "Marines" zu übertragen.

Wollte "ISAF" nun auch noch andere Teile des Landes kontrollieren, dann müsste diese Truppe in einem Maße ausgeweitet werden, zu dem wohl keiner seiner Kontributions-Staaten bereit wäre. Die Ausbildung und Ausrüstung einer afghanischen Armee hingegen muss mit internationaler Hilfe vorangetrieben werden, ebenso der Ausbau der Polizei. Denn letztlich wird Afghanistan nur von seinen eigenen Einwohnern befriedet werden können.

Macht der Gewohnheit

Diese Einwohner müssen aber auch ein Minimum von Lebensqualität geboten bekommen, sonst wird sich ihre Bereitschaft zur Kooperation wohl sehr in Grenzen halten. So muss alles getan werden, um die neue Flucht aus Afghanistan zu stoppen und dem Land muss dazu verholfen werden, mit "normalen" Mitteln auf eigenen Füßen zu stehen. Ein klassisches Beispiel hierfür ist der Anbau von Opium: Immer wieder hat das Ausland die Afghanen ermuntert, etwas anderes anzubauen. Solange sie davon aber nicht leben können, kehren sie immer wieder zu den alten Gewohnheiten zurück.