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Selbsternannte Republik

Andreas Brenner 13. März 2007

Die regionale armenische Mehrheit erklärte Berg-Karabach 1991 für unabhängig von Aserbaidschan, es folgte ein blutiger Krieg. Seit 1994 gibt es einen Waffenstillstand. Doch der Konflikt ist ungelöst.

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Vier alte Männer sitzen in Stepanakert auf einer Bank (Quelle: AP)
Im Zentrum von Stepanakert, der Hauptstadt Berg-KarabachsBild: AP

Gandzasar - Berg der Schätze. Das ist die Übersetzung aus dem Armenischen für eines des ältesten Kloster im Südkaukasus. Eine prachtvolle Kathedrale aus dem dreizehnten Jahrhundert, umrahmt von einer einzigartigen Bergkulisse, steht auf der Spitze eines Hügels. Unten im Tal liegt das Dorf Vank. 16 Zivilisten und 36 Soldaten aus diesem Dorf kamen während des Krieges um Berg-Karabach ums Leben. Sie sind hier auf einem Friedhof hinter der Klostermauer begraben. Die Porträts der Kämpfer sind in voller Größe in den Grabsteine gemeißelt.

"Das sind die Beschützer des Arzachs und seiner Kirchen. Unsere Kinder, unsere Söhne", erklärt der Abt, Ter-Ogannes Oganesjan. Seit 1992 ist er nicht nur geistiges Oberhaupt des Klosters. Auf einer DVD, die man im Kloster-Kiosk kaufen kann, ist Oganesjan mit einem Maschinengewehr zu sehen. Er hat Gandzasar und Arzach, wie die Armenier Berg-Karabach nennen, gegen die Aserbaidschaner verteidigt. Bis heute bezeichnet er sie als Feinde.

Mindestens 25.000 Menschen starben im Krieg

Den dreijährigen Krieg haben die Armenier für sich entschieden. Damals, Anfang der 90er-Jahre, starben unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen 25.000 und 50.000 Menschen. Mehr als eine Million Menschen mussten flüchten. So wurde der Name "Karabach" ("Schwarzer Garten") für beide Seiten zu einem tragischen Omen.

Im Gegensatz zu den umliegenden Gebäuden wurde die Kathedrale von Gandzasar trotz des Beschusses nicht zerstört. Für die Restaurierung der Anlage hat ein in Russland lebender Unternehmer armenischer Herkunft, Levon Airapetjan, viel Geld gespendet. Ihm gehören mehrere Unternehmen in seinem Heimatdorf Vank.

Die Armeen stehen sich noch immer gegenüber

Nur wenige Kilometer von Vank entfernt stehen sich noch immer zwei verfeindete Armeen gegenüber, die eine aus Aserbaidschan und die andere aus der selbsternannten Republik Berg-Karabach. Aber in Vank spürt man nichts davon, denn Vank ist ein reiches Dorf, in dem die Menschen Arbeit haben. Vor allem auf dem Bau, denn Levon Airapetjan baut in Vank und in der Umgebung Häuser, Straßen und eine Schule. Sogar ein Krankenhaus und ein Stadion sind geplant.

Drei aserbaidschanische Grenzsoldaten mit Hund patroullieren an einem Grenzzaun
Hinter dem Grenzzaun: Aserbaidschanische Soldaten, hier an der Grenze zum IranBild: dap

Weniger Glück haben die Einwohner von Stepanakert, der Hauptstadt von Berg-Karabach. Die große Schuhfabrik ist geschlossen, die Auftragsbücher sind leer. In der benachbarten Milchfabrik ist die Lage nur wenig besser. Morgens um neun ist Direktor Arkadij Grigorjan zur Arbeit erschienen, doch von den 34 Mitarbeitern ist noch keiner zu sehen. Die Arbeit fange erst gegen elf Uhr an, wenn die Milch geliefert wird, sagt Grigorjan: "In der Winterzeit wird wenig, viel zu wenig hergestellt. Eine, höchstens zwei Tonnen Milchprodukte am Tag."

Monatslohn: 100 Dollar

In der Sowjetzeit, aus der noch die Fabrik-Einrichtung stammt, erhielt die Molkerei täglich 100 Tonnen Milch zur Verarbeitung. Davon kann Arkadij Grigorjan heute nur träumen. Seine Hoffnungen verbindet der Direktor mit einem ausländischen Investor, dessen Namen er aber nicht nennen will. Bald, versichert er, werde die Fabrik wieder schwarze Zahlen schreiben. Vielleicht verdienen seine Mitarbeiter dann mehr als die heutigen 100 Dollar im Monat.

Dreimal soviel Lohn erhalten die Minensucher von "The Halo Trust". Die britische Nichtregierungsorganisation setzt sich weltweit für das Aufspüren und Vernichten von Landminen ein. Seit dem Jahr 2000 ist "The Halo Trust" mit fast 200 Mitarbeitern in Berg-Karabach vertreten. Fünf Millionen Quadratmeter hätten seine Mitarbeiter im vergangenen Jahr gesäubert, sagt der Offizier Jurij Schachramanjan: "Wir haben etwa 1500 Minen geräumt, darunter 148 Anti-Panzerminen. Der Rest sind Anti-Personenminen."

Zwölf Zivilisten, darunter fünf Kinder, seien im letzten Jahr durch Anti-Personen-Minen verletzt worden, zwei sind gestorben. Nach Einschätzung von "The Halo Trust" haben die Minensucher noch fünf bis sechs Jahre in Berg-Karabach zu tun. Aber das heißt noch lange nicht, dass es danach keine Minen mehr gibt. Große Minenfelder bleiben dort bestehen, wo die aserbaidschanische Armee und die Armee von Berg-Karabach aufeinander treffen. Obwohl der Konflikt als beruhigt gilt, ist er nicht gelöst.

Ein Volk von Reservisten

Andrang auf Stimmzettel in einem Wahllokal in Berg-Karabach (Quelle: AP)
Wahlen in Berg-Karabach: Provokation oder Notwendigkeit?Bild: AP

Eine Milliarde Dollar beträgt der Etat des aserbaidschanischen Verteidigungsministeriums. So viel Geld haben Armenien und Berg-Karabach nicht. 20.000 Mann stehen unter Waffen, eine hohe Zahl angesichts der Tatsache, dass in Berg-Karabach nicht mehr als 150.000 Menschen leben. Und: Alle erwachsenen Männer sind Reservisten und müssen mehrmals im Jahr an Militär-Übungen teilnehmen.

Einer von ihnen ist der 25-jährige Bauer Arut. Ob er kämpfen werde, wenn der Krieg wieder ausbricht? Arut antwortet ohne Zögern: "Natürlich. Und ich habe keine Angst. Schließlich sind mein Vater und meine Brüder bei mir, warum sollte ich da Angst haben."

Seit 13 Jahren Waffenstillstand - ohne Blauhelme

Sowohl Armenier als auch Aserbaidschaner sind bereit, wieder Krieg zu führen. Deswegen sind die Militär-Parolen aus Baku, Stepanakert oder Eriwan durchaus ernst zu nehmen. Dennoch gibt es Hoffnung auf Frieden. Immerhin haben die verfeindeten Seiten seit fast 13 Jahren den Waffenstillstand eingehalten, ohne Hilfe von Blauhelmen. Eine Seltenheit für Konflikte wie den um Berg-Karabach.

Die Sonne scheint bei der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku auf das kaspische Meer. Auf dem Wasser Ölfördertürme, im Vordergrund ein Minarett (Quelle: AP)
Baku: Reisen von Berg-Karabach nach Aserbaidschan sind nicht möglichBild: AP

Ende 2006 geriet die Region wieder kurz in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Am 10. Dezember wurde ein Referendum über die Verfassung der selbsternannten Republik abgehalten. Dies führte zu heftiger Kritik seitens europäischer Organisationen und Enttäuschung bei der Führung in Berg-Karabach. Vize-Außenminister Massis Mailjan bestätigt: "Ehrlich gesagt haben wir gehofft, dass die europäischen Organisationen gar nichts über das Referendum sagen werden."

Kann ein Referendum dem Frieden im Weg stehen?

Aserbaidschan betrachtet die Abstimmung über die Verfassung in Berg-Karabach als eine Verletzung des Völkerrechts. Dass aber die internationalen Organisationen das Referendum verurteilen, findet auch der oppositionelle Parlamentarier Gegam Bagdasarjan ungerecht. "Ich weiß nicht, was die Weltöffentlichkeit will. Soll etwa Berg-Karabach eine Kaserne bleiben?", fragt Bagdasarjan. Er verstehe nicht, wie das Streben nach Demokratie bei einer der Konflikt-Parteien negative Auswirkungen auf die Friedensverhandlungen haben sollte.

Für mehr Demokratie und Menschenrechte setzt sich in Berg-Karabach das Komitee "Helsinkier Initiative 92" ein. Geht es nach dem Vorsitzenden Karen Ogandschanjan, erkennt die internationale Gemeinschaft die Unabhängigkeit von Berg-Karabach für fünf Jahre an. Im Austausch müsse das Land die Bedingungen für die Rückkehr aserbaidschanischer Flüchtlinge schaffen und eine gemeinsame Regierung bilden.

Bei den beiden wichtigsten Posten schlägt Ogandschanjan ein Rotationsmodell vor: "Ein Vertreter der armenischen Mehrheit sollte für ein Jahr Präsident werden, und ein Vertreter der aserbaidschanischen Minderheit Ministerpräsident. Nach einem Jahr sollten sie die Posten tauschen."

Anerkennung auf Bewährung

Porträt von Arkadi Gukasian(Quelle: AP)
Arkadi Gukasian ist Präsident der selbsternannten RepublikBild: AP

Nach Meinung des Menschenrechtlers ist in diesen fünf Jahren die Europäische Union aufgerufen, der jungen Demokratie massive, vor allem finanzielle Hilfe zu leisten. Sollte die armenische Seite einen neuen Gewaltausbruch verantworten, müsse Berg-Karabach zu Aserbaidschan zurückkehren. Zeige sich aber, dass das friedliche Zusammenleben von Armeniern und Aserbaidschanern in der Republik möglich sei, bleibe Berg-Karabach unabhängig.

In Stepanakert, Eriwan und Baku finden die Vorschläge Ogandschanjans freilich keine Unterstützung. Auch die Reisen nach Aserbaidschan, die Karen Ogandschanjan noch vor wenigen Jahren mit Hilfe internationaler Organisationen machen konnte, stoßen inzwischen auf Argwohn. Wegen des schärferen Tons bei den Friedensverhandlungen sind solche Reisen jetzt unmöglich.

Nur wenige Aserbaidschaner sind geblieben

Im Jahr 2000 begleitete auch Almaz Antonowa den Menschenrechtler nach Baku. Sie ist Lehrerin für russische Sprache und Literatur, und sie ist Halb-Aserbaidschanerin. Die aserbadschanische Minderheit in Stepanakert zählt nur noch etwa 100 Menschen. Im Gegenzug zu anderen verbirgt Antonowa ihre Herkunft nicht: "Ich falle doch gleich durch mein Aufsehen und meinen Namen als Asebaidschanerin auf, außerdem bin ich Lehrerin. Weshalb soll ich mich verstecken?"

Für Almaz Antonowa war es selbstverständlich, in Stepanakert zu bleiben, als fast alle anderen Aserbaidschaner flohen. Schließlich seien ihr Mann und ihre Kinder Armenier. Nur wenn sie verfolgt worden wäre, wäre sie geflüchtet, wie es ihre Mutter und ihre Geschwister getan haben. Doch das war nicht nötig, vielleicht auch, weil ihr Mann von vielen respektiert wurde – und, weil sie fließend Armenisch spricht.

"Man kann doch nicht zwischen Vater und Mutter entscheiden"

Im ersten Stock der Schule, in der Almaz Antonowa unterrichtet, hängt eine Gedenktafel mit 70 Fotos von Schülern, die während des Krieges gefallen sind. Fünf Namen zählt Almaz Antonowa auf. Das seien ihre Schüler gewesen, aus der ersten Klasse. Ihre Schüler, wiederholt sie, und ihre Nationalität sei unwichtig: "Das armenische Volk, das ist das Volk meines Vaters, und das aserbaidschanische das meiner Mutter. Man kann doch nicht zwischen Vater und Mutter entscheiden."

Entschieden haben sich die jungen Armenier in der selbsternannten Republik. Sie verstehen sich als Bürger des Staates Berg-Karabach, wie etwa die 21-jährige Studentin Lussine und der 24-jährige IT-Spezialist Marut. Ins Ausland, zum Beispiel in das Nachbarland Georgien, können sie mit dem armenischen Reisepass reisen. Dort treffen sich junge Bewohner von Berg-Karabach gelegentlich auch mit Aserbaidschanern. Dabei spreche man immer über den Krieg, sagt Marut, doch nun gewöhnten sie sich an ein anderes Leben. Suche man im Internet nach Berg-Karabach, werde dort nur über den Krieg erzählt. Marut findet das falsch: "Seitdem hat sich viel geändert. Es ist an der Zeit, diesen Krieg zu vergessen."