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"Es genügt nicht, Gesetze zu verabschieden"

Das Gespräch führte Rafael Heiling8. März 2005

Die Türkei hat schon viele Fortschritte in der Menschenrechtsfrage gemacht. Trotzdem hat sie noch einen weiten Weg vor sich, sagt Jean Asselborn, amtierender EU-Ratspräsident, im Interview mit DW-WORLD.

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Luxemburgs Außenminister und EU-Ratspräsident AsselbornBild: AP

Sie haben mit EU-Erweiterungskommissar Olli Rehn und dem britischen Europaminister Denis MacShane die Türkei besucht und Außenminister Abdullah Gül getroffen - was sind denn die Ergebnisse?

Ich glaube, man muss zuerst anfangen, mit den Eindrücken, die man hat, wenn man als Außenminister, als Vertreter der Union in die Türkei kommt. Erst spricht man Sonntagabend mit dem Außenminister und ist sich einig, dass der Reformprozess nicht stehen bleiben darf, dass die Zypern-Frage sehr wichtig ist - also alles ist positiv. Dann bin ich am folgenden Tag, am Montagmorgen, aufgestanden und habe diese Bilder gesehen in Istanbul. Das war für mich wirklich nicht eine Türkei des 21. Jahrhunderts, sondern eine Türkei, wo so viel Brutalität zusammenkam. Wo junge Menschen, vor allem Frauen, die friedlich demonstriert haben, als sie schon am Boden lagen, mit Knüppeln geschlagen wurden. Mit den Füßen wurde auf sie getreten.

Deswegen waren wir uns einig, Rehn und auch MacShane, dass wir stark protestieren würden. Vor der Sitzung habe ich eine Viertelstunde unter vier Augen mit Außenminister Gül geredet. Er hat eingesehen, dass diese Demonstrationsniederschlagung, diese Brutalität, nicht mit dem Bild einer toleranten Türkei übereinstimmt, und er hat uns zugesagt, dass alles getan wird, um die Schuldigen zu ermitteln, und dass dies nicht wieder vorkommt.

War das also eine Ausnahme, oder hat die Türkei tatsächlich Rückschritte in Sachen Menschenrechte gemacht?

Die Türkei hat in den letzten drei Jahren sehr, sehr viele Fortschritte in Sachen Menschenrechte gemacht. Dieser Sonntag hat aber bewiesen, dass es nicht genügt, in einem Land wie der Türkei, das in einer Übergangsphase ist, Gesetze zu verabschieden gegen die Folter, für die Menschenrechte, für die Religionsfreiheit und so weiter.

Ohne den Druck aus Europa wären die Menschenrechtslage in der Türkei sehr viel schlimmer. Und nur wir bringen es fertig, sie darauf aufmerksam zu machen, dass es nicht genügt, ökonomisch und politisch stärker zu werden. Sondern die Basis der Demokratie müssen die Menschenrechte bleiben. Das ist noch ein weiter Weg.

Kann die Türkei es schaffen, die Staatsgewalt dazu zu bringen, sich auch an die Menschenrechte zu halten und an die Gesetze, die die Regierung verabschiedet?

Gestern beim Essen habe ich nochmal mit Außenminister Gül darüber gesprochen und er hat gesagt: 'Wir haben selbstverständlich ein Problem mit der Ausbildung, zum Beispiel bei der Polizei. Wie sie in Stresssituationen umgehen muss mit Menschen, die demonstrieren.' Die Türkei unternimmt auch sehr große Anstrengungen, um Richter und Juristen auszubilden, die das anders sehen als im 20. Jahrhundert, als nur die Regierung diktierte, wo es hingehen sollte. Ich glaube schon, dass man der Türkei zutrauen kann, dass sie diese Gesetze auch umzusetzt. Das braucht natürlich Zeit, das geht nicht von einem Tag auf den anderen.

In der Diskussion ist immer noch die Zypern-Frage - wird die Türkei jetzt den griechischen Teil der Insel anerkennen?

In dieser Frage muss man, glaube ich, schrittweise vorgehen, um etwas zu erreichen. Jetzt ist als positiver Punkt festzuhalten, dass die Türkei bereit ist, in einigen Wochen die Verhandlungen mit der EU-Kommission abzuschließen und das Zusatzprotokoll über die Zollfragen zu unterschreiben. Das wäre ein erster Schritt. Natürlich wird die Türkei dann sagen: 'Damit haben wir Zypern nicht anerkannt.' Es kommt dabei aber sehr genau auf den Tonfall an.

Die Zypern-Frage ist auch in der Verantwortung Griechenlands und Zyperns. Und hier glaube ich, dass die Zyprer auf ihrer Seite Anstrengungen unternehmen. Dann wäre die EU bereit, dem Norden Zyperns 259 Millionen Euro - das ist ja nicht gerade nichts - zur Verfügung zu stellen. Außerdem müsste der Norden Zyperns die Möglichkeit haben, direkt Handel zu treiben mit EU-Ländern. Dann wären wir von einer Lösung zwar noch weit entfernt, da würde noch viel fehlen. Aber es wären Schritte in die richtige Richtung. Und wir werden während unserer Präsidentschaft, also bis Ende Juni, versuchen, diese Fragen positiv anzugehen.

Lesen Sie das Interview bitte weiter auf Seite 2.

Der Kurdenkonflikt ist ja auch noch nicht gelöst - wird er die Beitrittsverhandlungen noch belasten?

Positiv ist auch hier, dass die türkische Regierung jetzt, was die Sprache angeht, im Fernsehen, im Radio, große Schritte gemacht hat, die in die richtige Richtung gehen. Wir haben gestern die türkische Regierung ermutigt, diese Schritte auszubauen. Und wir haben auch gesagt, dass die Umsiedlungen im Südosten der Türkei rückgängig gemacht werden müssen. Die Frage der Kurden bleibt eine sehr wichtige Frage. Daran wird die Fähigkeit der Türkei gemessen werden, Menschenrechte wirklich zu achten.

Die Ukraine möchte auch in die EU, Staatschef Viktor Juschtschenko wirbt dafür. Welche Chancen geben Sie den Plänen, und was muss die Ukraine dafür tun, damit sie beitrittsfähig ist?

Wir haben in Brüssel einen sehr soliden Aktionsplan mit der Ukraine unterschrieben. Darin ist die politische, ökonomische und kulturelle Zusammenarbeit zwischen der EU und der Ukraine geregelt. Ich glaube nicht, dass es realitätsnah ist, gleich von Beitrittsverhandlungen zu sprechen. Die Ukraine liegt in Europa, das stimmt. Es liegen noch sehr viele Länder in Europa. Wir werden jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit Bulgarien und Rumänien aufnehmen, dann werden wir 27 Staaten sein.

Und selbstverständlich müssen wir all den Ländern sehr viel Beachtung schenken, die dann an der Grenze liegen zwischen Russland einerseits und der EU andererseits im Osten Europas. Die Ukraine ist ein sehr großes, ein wichtiges Land. Die Ukrainer haben wirklich gezeigt, dass Demokratie nicht aufzuhalten ist. Das muss positiv eingeschätzt werden von der EU, aber jetzt mit diesem Land in Beitrittsverhandlungen zu treten, das wäre nicht realitätsnah.