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"Erst einmal ein wenig ausruhen"

Sven Pöhle3. Oktober 2015

40 Tage dauerte ihre Reise. Aus Syrien sind Firas und seine Familie nach Deutschland geflohen. Im Rheinland sind sie bei seinem Schwager untergekommen. Rein rechtlich halten sie sich illegal hier auf.

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Eine irakische Familie kommt am 14.07.2015 im Grenzdurchgangslager Friedland (Niedersachsen) an (Foto: Stefan Rampfel/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/S. Rampfel

Es ist eng geworden in Fuads* WG-Zimmer. Sieben Menschen schlafen seit Sonntag in dem kleinen Raum im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses im Rheinland. Fuad hat die Familie seiner Schwester Maysoun bei sich zu Hause aufgenommen, die aus Damaskus geflohen ist.

Fuad selbst ist in Deutschland bereits als Flüchtling anerkannt. Doch Maysoun, ihr Mann Firas, dessen Mutter und die drei Kinder sind eigentlich illegal in Deutschland. Nach ihrer Einreise haben sie sich noch nicht bei der Polizei oder den Behörden gemeldet und um Asyl gebeten. Weil sie Berichte ihrer Landsleute aus Erstaufnahmelagern davon abgeschreckt haben, einen entsprechenden Antrag zu stellen. Und weil die lange Reise nach Deutschland viel Kraft gekostet hat. "Sie müssen sich erst einmal ein wenig ausruhen“, meint Fuad entschuldigend.

Spuren einer langen Reise

Erschöpft sehen sie aus, die beiden Eltern, die nebeneinander auf dem kleinen Bett von Fuad sitzen. 40 Tage war die Familie unterwegs. Geschlafen haben sie wenig in den vergangenen Wochen. Sein Rücken bereite ihm Probleme, sagt der fast 1,90 Meter große Firas. Seine breiten Schultern hängen leicht herunter. Zu der körperlichen Anstrengung kam die Sorge um die Familie. Der 36-Jährige deutet auf seine Frau, seine Schwiegermutter und die Kinder im Alter zwischen sechs und zehn.

Maysoun zeigt schüchtern ein paar graue Strähnen, die nur bei genauem Hinsehen in ihrem dichten schwarzen Haar auszumachen sind. "Die hatte ich vorher nicht", sagt sie mit einem müden Lächeln und streicht Rami über den Kopf. Der Achtjährige hat sich auf ihren Schoß gelegt und die Augen geschlossen. Seine Brüder Said und Kalil sitzen auf dem Boden und malen. Gleise, Züge und Bäume unter einem blauen Himmel. Darüber leuchten bunte Flaggen von mehreren Nationen.

"Wir konnten nicht bleiben"

Dass sie fort mussten aus Syrien, war ihnen spätestens klar, als die Autobombe direkt neben ihrem Haus in Damaskus explodierte. Gut ein Jahr ist das nun her. Ein paar Minuten vorher hätten die Kinder noch unten gespielt, erzählen die Eltern. Dass Maysoun sie kurz zuvor zum Essen hereingerufen hatte, hat ihnen wohl das Leben gerettet. Auf seinem Handy zeigt der Familienvater ein Bild des ausgebrannten Kleinwagens, das er vom Küchenfenster aus geschossen hatte. Das Dach ist nicht mehr vorhanden. Auf dem Vordersitz ist eine verkohlte Leiche erkennbar.

Syrien Damaskus Luftangriffe
"In Syrien konnten wir nicht bleiben" - Bilder der Zerstörung aus der syrischen Hauptstadt DamaskusBild: Reuters/B. Khabieh

Für die Kinder sei der Bürgerkrieg ein Teil ihres Lebens gewesen, sagt Fuad. Das Donnern der Artillerie auf den Bergen um die Stadt, der Fluglärm, die Hausdurchsuchungen der syrischen Armee, die in der Gegend oppositionelle Kräfte vermutete. Vor mehreren Monaten habe eine Rakete die Schule der Kinder getroffen. Glücklicherweise außerhalb der Schulzeit. Doch vier Jahre Gewalt haben Spuren hinterlassen. Kalil, der Jüngste, wache häufig nachts verängstigt auf, erzählt Maysoun. Der Sechsjährige schläft mit Windeln.

"In Syrien konnten wir nicht länger bleiben", sagt Firas und küsst Kalil, der sich zwischen die Eltern gesetzt hat, auf den Kopf. Das Haus, für das er lange gearbeitet hatte, musste er unter Wert verkaufen. Die Familie brauchte Geld für die Flucht nach Europa. Die Reise ist teuer. Das weiß er von Fuad, der den langen Weg bereits hinter sich gebracht hat.

Von Damaskus ins Rheinland

Dass er nun in einem verschlissenen, grauen Trainingsanzug barfuß auf dem Bett sitzt, ist Firas sichtlich unangenehm. Auch Maysoun entschuldigt sich mehrfach für ihr Äußeres. Doch europäischen Boden haben sie mit wenig mehr als ihrer Kleidung am Leib betreten. Noch nicht einmal ihre Rucksäcke durften sie mitnehmen auf das Boot, das sie von der türkischen Ägäis-Küste auf die griechische Insel Kos brachte.

Eine syrische Familie erreicht die Küste von Kos. Die drei Kinder stehen am Strand. (Foto: privat)
"Wir hatten Glück", sagt Maysoun. "Das Wetter war gut. Die See war ruhig."Bild: Privat

Die Erleichterung nach der sicheren Ankunft war groß. "Wir haben uns in den Sand geworfen und den Boden geküsst", sagt Firas und zeigt ein Foto, das er auf Kos geschossen hat. Flüchtlinge lächeln am Strand in die Kamera. Im Hintergrund liegt das schwarze Schlauchboot, mit dem sie das Mittelmeer überquert haben. 1300 US-Dollar mussten sie Schleusern dafür pro Person bezahlen, erzählt Firas. Für die Kinder den halben Preis. Fast 6000 Dollar für dreieinhalb Stunden vom türkischen Bodrum Richtung Griechenland. Gemeinsam mit mehr als 35 Menschen in dem kleinen Boot.

Von Kos reist die Familie mit der Fähre weiter nach Athen. Schleuser bringen sie nach Mazedonien, von dort fahren sie mit dem Zug an die serbische Grenze. Die letzten Kilometer müssen sie zu Fuß zurücklegen. Von Serbien geht es bis kurz vor Ungarn, danach nach Kroatien. Weil vermeintliche Taxi-Fahrer 30 Dollar pro Person und Kilometer fordern, geht die übermüdete Familie zu Fuß über die Grenze. Dann durchqueren sie Slowenien und kommen schließlich nach Wien. Häufig muss die Familie im Freien übernachten. Mehrere Tage ernähren sie sich nur von etwas Brot, Keksen und Wasser.

In Österreich schließlich kauft Firas ICE-Tickets nach Deutschland. Kontrolliert wurden sie nicht. Sie wissen, dass sie sich eigentlich direkt nach der Einreise bei der Polizei oder den Behörden melden müssen. Fuad hatte es ihnen gesagt. Doch die Berichte des Schwagers und von Maysouns Vater, der zu dieser Zeit in einer Erstaufnahmeeinrichtung im unterfränkischen Schweinfurt auf eine Möglichkeit zur Weiterreise wartet, haben sie abgeschreckt. Sie entschieden, die Behörden zunächst nicht zu informieren. "Wir melden uns in ein oder zwei Tagen bei der Polizei", versprechen Maysoun und ihr Mann.

Infografik Flüchtlinge Balkanroute September mit Kroatien 2015 Deutsch
Wie viele andere zuvor kamen auch Firas und seine Familie über die Balkanroute nach Deutschland

"Mautini, Mautini"

Ob sie jemals zurück in die Heimat gehen werden, wissen die Eltern nicht. Es sei zu viel Blut geflossen. Zu viele Menschen seien ums Leben gekommen. Die Aussicht auf dauerhaften Frieden werde immer geringer, sagen sie. Ihre Kinder sitzen nebeneinander auf der roten Matratze vor dem Sofa und schauen gebannt auf ein Mobiltelefon. Aus dem Gerät klingt ein orientalisches Lied. Es heißt Mautini, erklärt Fuad. Ein in der arabischen Welt sehr bekanntes Volkslied. Geschrieben hat es der palästinensische Dichter Ibrahim Touqan.

"Mautini, Mautini, Al-dschalalu wa I-dschamalu, Wa s-sana'u wa l-baha'u", singt eine traurige Männerstimme. "Meine Heimat, meine Heimat", übersetzt Fuad "Glanz und Schönheit, Erhabenheit und Pracht sind in deinen Hügeln" - "Fi rubak, fi rubak, Wa l-hayatu wa n-nadschatu, Wa l-hayatu wa n-nadschatu" - "Leben und Freiheit, Freude und Hoffnung sind in deiner Luft, sind in deiner Luft". Die Eltern haben die Augen geschlossen. Die Schwiegermutter wiegt langsam ihren Kopf. "Mautini, Mautini", singen die Kinder leise mit.

*Anmerkung der Redaktion: Alle Namen der beteiligten Personen wurden auf deren Wunsch hin geändert.