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Getrieben vom IS

Jan D. Walter27. Juli 2015

Mit dem Attentat gegen die Türkei unterstreicht der IS seine Radikalität und treibt das Land in den Krieg. Präsident Erdogan könnte das bei Neuwahlen sogar helfen. Ausgesucht hat er sich das Szenario aber wohl nicht.

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Türkei Recep Tayyip Erdogan PK zu Angriffen auf Syrien
Bild: picture-alliance/AP Photo/Depo

Jeder gegen jeden, und alle gegen den "Islamischen Staat" (IS). Und genau so will es der IS, glaubt Christian Hacke, spätestens seit der IS Anschläge in der Türkei verübt hat. Für den emeritierten Politologen und Sicherheitsexperten der Universität Bonn ist die Botschaft klar: "Der 'Islamische Staat' sagt damit: Wir sind die alleinige Führungsmacht im Nahen Osten."

Am vergangenen Montag hatte ein türkischer IS-Dschihadist durch sein Selbstmordattentat in der türkischen Grenzstadt Suruc 32 Menschen getötet. Am darauf folgenden Wochenende hatten IS-Kämpfer türkische Grenzsoldaten beschossen. Als Reaktion darauf fliegt die türkische Luftwaffe seit Freitag Angriffe gegen Stellungen der Terrormiliz. Dies bedeutet eine nahezu vollkommene Kehrtwende der konservativen AKP-Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdogan gegenüber dem IS.

Denn bisher hatte sich die türkische Regierung aus dem Kampf gegen den IS herausgehalten. Der Grund dafür dürfte sein, dass der IS auch Feinde der Türkei bekämpft: den in der AKP verhassten syrischen Staatschef Baschar Al-Assad, und vor allem die kurdischen Peschmerga- und PKK-Milizen. Insbesondere die PKK und die ihnen nahestehenden Peschmerga-Gruppen im Irak kämpfen für einen kurdischen Staat, der auch türkisches Territorium umfassen soll.

Ende einer stillschweigenden Allianz

Lange ging man in der Türkei deshalb sehr verhalten gegen die Umtriebe des IS vor. Seit Monaten gilt die Türkei als Haupt-Transitland für IS-Kämpfer aus Europa. Auch Hunderte Türken sollen auf Seiten des IS in Syrien und im Irak kämpfen. 3000 weitere Mitglieder sollen die Terrormiliz von der Türkei aus unterstützen. Und das sei vielleicht nur die Spitze des Eisbergs, sagt Ferhad Seyder, Leiter der Mustafa Barzani-Arbeitsstelle für Kurdische Studien an der Universität Erfurt: "Es könnten wesentlich mehr sein."

Symbolbild Kurdische Kämpfer (Foto: Ahmed Deeb/AFP/Getty Images)
Seit Monaten verteidigen kurdische Peschmerga die syrische Stadt Kobane an der Grenze zur Türkei gegen den ISBild: Ahmed Deeb/AFP/Getty Images

Laut türkischen Medien sind sogar verletzte IS-Kämpfer auf Staatskosten in türkischen Krankenhäusern behandelt worden. "Die aktive Unterstützung wurde nie bewiesen. Aber die türkische Regierung hat den IS zumindest gewähren lassen", sagt Seyder.

"IS will einzige Macht im Nahen Osten sein"

Damit dürfte nun Schluss sein. Nach dem Selbstmordanschlag mit 32 Toten in der Grenzstadt Suruc vergangene Woche, ist die türkische Luftwaffe in den Kampf der US-geführten Allianz gegen den IS eingestiegen. Es drängt sich die Frage auf, warum der IS das einzige Land angegriffen hat, das bisher nicht sein Feind war.

Offenbar setzt der IS erneut auf die Kraft seiner radikalen Vision einer islamischen Weltordnung. Den realpolitischen Preis zahlt der IS sehenden Auges, um sich ideologisch gegen die moderate Version eines sunnitisch geprägten Staates - nämlich die Türkei unter AKP-Führung - zu positionieren: "Erdogan sollte sich selbst als Lakai des Westens entlarven", meint Sicherheitsexperte Hacke. "Es soll klar sein, dass die Türkei keine Alternative zum IS sein kann."

Türkei Proteste wegen Luftangriffe auf Kurden in Syrien (Foto: OZAN KOSE/AFP/Getty Images)
Gewaltsame Proteste am Montag in Istanbul gegen türkische Luftangriffe gegen kurdische StellungenBild: Getty Images/AFP/O. Kose

Perfekt getimtes Attentat

Ist die AKP dem IS also in die Falle gegangen? Angesichts der innenpolitischen Lage hatte sie keine andere Wahl, sagt Türkei-Experte Seyder. Das Selbstmordattentat eines türkischen IS-Dschihadisten in Suruc kommt einer Kriegserklärung der Terrormiliz gleich. Seit Monaten nehmen zudem die Spannungen zwischen kurdischen Nationalisten und türkischen Sicherheitskräften zu. Zwei Tage nach dem Attentat in Suruc dann die nächste Eskalation: Mitglieder der als Terrorgruppe geltende Kurdischen Arbeiterpartei PKK ermorden zwei türkische Polizisten.

"Erdogan musste gegen beide Gruppen vorgehen, alles andere hätte man ihm als Schwäche ausgelegt", sagt Seyder. Und das hätte die Türkei womöglich noch stärker destabilisiert als der jetzige Kampf an zwei Fronten. Denn seit den Parlamentswahlen Anfang Juni befindet sich das Land in einem politischen Schwebezustand: Die Regierungspartei AKP regiert ohne Mehrheit, sämtliche Koalitionsgespräche sind ins Leere gelaufen, alles deutet auf Neuwahlen hin.

Türkei Suruc Bombenanschlag (Foto: Picture-alliance/Xinhua/Merit Macit/LANDOV)
Das Selbstmordattentat in Suruc, der türkischen Zwillingsstadt des syrischen Kobane, forderte 32 OpferBild: picture alliance/landov/M. Macit

Erdogan in der Zwickmühle

"Hätte Erdogan nichts unternommen, würde er die Neuwahlen krachend verlieren." Und das, sagt Seyder, wäre nicht nur für die AKP eine Katastrophe: "Sie ist - wohl oder übel - die einzige Partei, die derzeit überhaupt in der Lage ist, die Türkei zu regieren." Zu weit auseinander seien die Positionen der anderen Parteien. Die politischen und wirtschaftlichen Folgen solcher Führungslosigkeit seien kaum absehbar, so Seyder.

Genau deshalb könnten Erdogan und seine AKP von der angespannten Sicherheitslage bei den kommenden Wahlen sogar profitieren. Spekulationen, dass Erdogan die Situation zu diesem Zwecke bewusst in Kauf oder gar provoziert haben könnte, lehnt Türkei-Experte Seyder jedoch ab: "Das wäre viel zu riskant. Man stelle sich nur vor, der IS schafft es, türkische Soldaten zu enthaupten. Dann könnte Erdogan erledigt sein."