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Entführungen in Tschetschenien

22. Dezember 2005

Während des Tschetschenien-Kriegs verschwanden bis zu 5000 Menschen. Doch auch heute noch werden vor allem junge Männer entführt, auch von den föderalen Organen vor Ort. Eine DW-Reporterin sprach vor Ort mit Betroffenen.

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Während das Leben in einigen Bereichen wieder geregelt wird, dauert das Blutvergießen in Teilen Tschetscheniens anBild: dpa

Heute gibt es zwei Tschetschenien. In dem einen Tschetschenien wird das Leben allmählich geregelt, es werden Häuser und Brücken gebaut. Die Ernte wird eingefahren. Mitarbeiter der föderalen und lokalen Machtorgane bekämpfen mit Hilfe der Menschen vor Ort Banden und illegale bewaffnete Gruppierungen. In dem anderen Tschetschenien dauert das Blutvergießen an und ein Menschenleben ist dort nichts wert. Oft werden dort Menschen wegen des geringsten Verdachts und absolut ohne Grund gefangengenommen, gefoltert und getötet. Besonders gefährdet sind junge Männer. Die Tschetschenin Grosinka Fatima sagte: "Sie werden entführt, geschlagen, gefoltert. Was das für sie für Folgen hat! 18-, 19-, 20jährige, die nie in einem Krieg waren. Das sind meist Kinder dieses Kriegs."

Hohe Dunkelziffer

Während des zweiten Tschetschenien-Kriegs verschwanden in der Republik nach Angaben von Menschenrechtlern bis zu 5000 Menschen spurlos. Die Anzahl Entführter liegt noch weit über dieser erschreckenden Zahl. Usam Bajsajew, Mitarbeiter des Menschenrechtszentrums Memorial, sagte der Deutschen Welle, die Entführungen in der Republik hätten sich in letzter Zeit verändert: "Heute werden Menschen von den föderalen Strukturen entführt, die mit ethnischen Tschetschenen besetzt sind. Das sind diejenigen, die in Tschetschenien als Anhänger von Kadyrow, Bajsarow oder Madajew gelten, also Tschetschenen."

Der Fall der Brüder Datagajew

So haben mehrere Personen in Uniform, die sich als OMON-Mitarbeiter ausgegeben hatten, die beiden Söhne von Edi Datagajew einen Tag vor Beginn des Ramadan verschleppt. Datagajew in einem Gespräch mit der Deutschen Welle: "Sie legten keine Dokumente vor. Sie wurden in Fahrzeuge gesetzt, irgendwohin gebracht, wo ihnen erst die Masken abgenommen wurden. Diejenigen, die sie dorthin gebracht hatten, verschwanden und andere Kerle kamen mit Schlagstöcken. Meine Söhne wurden an die Wand gestellt und geschlagen, mit Schlagstöcken, mit Fäusten in den Rücken, sehr brutal." Nach der Folter wurden die Brüder freigelassen. Einer von ihnen wurde unweit des Elternhauses aus dem Fahrzeug geworfen. Der andere Sohn der Datagajews wurde am Stadtrand von Grosny freigelassen. Datagajew sagte, seine Söhne seien nun psychisch geschädigt. Den älteren Sohn habe man gewarnt, wenn er über seine Entführung sprechen würde, dann würde man ihn jederzeit ausfindig machen können.

Vernehmung unter Folter

Oft werden, so der Menschenrechtler Bajsajew, Verdächtige unter Folter und mit Drohungen gezwungen, mit den Machtorganen zusammenzuarbeiten. Wenn ein Mann gefangengenommen und als Kämpfer verdächtigt werde, werde er unter Folter nach anderen Kämpfern, nach möglichen Kämpfern sowie nach deren möglichen Helfern und Sympathisanten befragt.

Möglicherweise mussten auch die Brüder Datagajew auf diese Weise ihre Freiheit bezahlen. Die Familie entschied sich, die Staatsanwaltschaft nicht einzuschalten und keine Anzeige wegen Folter zu erstatten. Die Angst vor den Folgen und das Misstrauen gegenüber der Justiz ist bei den Menschen in Tschetschenien tief verwurzelt.

Natalja Nesterenko
DW-RADIO/Russisch, 13.12.2005, Fokus Ost-Südost