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Glaube

Engel sind Wegelagerer – warum wir sie brauchen!

7. Oktober 2016

Sind die Engelbilder der christlichen Tradition nur ein Überbleibsel eines längst überwundenen Weltbildes? Christian Feldmann von der katholischen Kirche fragt nach dem Engelbild, das auch in unserer Zeit trägt.

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Frankreich Straßburg Engelspfeiler
Posaunenengel im Straßburger MünsterBild: picture-alliance/akg-images/Erich Lessing

In Marc Chagalls frühen Gemälden wimmelt es von Engeln. Es sind keineswegs nur fröhliche Naturkobolde und Chiffren erotischer Lust, wie man meinen möchte. Aus Chagalls Engeln spricht eine Sehnsucht, die über die vordergründig erkennbare Welt hinausreicht: Voller Wunder steckt sie, diese Welt. Wenn er geigende Fische, skurrile Vögel und eine alte Pendeluhr mit Flügeln ausstattet, dann freut er sich darüber, dass die Schöpfung in Bewegung ist und nicht komplett unseren Zwecken unterworfen.

Doch Chagall hat auch einen Wegelagerer-Engel gemalt, einen bedrohlichen Himmelsriesen: Fast den gesamten Bildrahmen ausfüllend, stürzt er auf die Erde nieder, eine Schriftrolle mit den fünf Büchern Mose im Arm, und rüttelt einen über den Tisch hingesunkenen Schläfer auf: „Erwache! Höre das Wort!“

„Erwache! Höre das Wort!“

Die Begegnung mit so einem Engel hat etwas Beklemmendes an sich. Sie hat teil am doppeldeutigen Geheimnis Gottes, das zugleich anziehend und furchtbar ist. Sie irritieren immer noch, die Posaunen blasenden Gerichtsengel an den mittelalterlichen Kathedralen, wie sie die Schlafenden aus allen Gräberfeldern der Welt herausrufen, zum endgültigen Urteil über ihr geglücktes oder verpfuschtes Leben.

Oder muss man gar nicht sterben, um den Wegelagerer-Engel zu treffen? Steckt er hinter den sogenannten Zufällen, die den schönsten Plan durchkreuzen, alle Schutzmechanismen und Lebenslügen entlarven? Die Begegnung mit dem Himmel tut weh, weil sie einem die Wahrheit über sich selbst mitteilt. Weil sie den Boden unter den Füßen wegzieht. Weil sie verwandelt. Aus dieser Begegnung kommt keiner heraus, wie er hineingegangen ist. Eine Nacht lang ringt Jakob mit dem Engel, wird von ihm an der Hüfte verwundet. Er erlebt diesen Kampf bis an die Grenze seiner Kräfte als Segen.

Früher sagte man wohl „Schutzengel“ zu so einer Figur. Eine seelische Instanz, eine Gewissensstimme, die mir hilft, mich selbst mit meinem Schatten anzunehmen, mich meinem eigenen Innern auszusetzen, ich selbst zu werden. Die jüdische Mystik des Mittelalters nannte diesen „persönlichen Engel“ den „Eigendämon“. Der Tiefenpsychologe C. G. Jung berichtet von einer Gestalt, die aus seinem Unterbewussten emportaucht und mit der er bald äußerst fruchtbare Gespräche über seine Seele führt.

Kann man die Engelbilder der christlichen Tradition so einfach als Überbleibsel eines längst überwundenen Weltbildes abtun? Die biblischen Geschichten von den singenden Engeln über Betlehem? Den weiß gekleideten Jünglingen am Grab des Auferstandenen? Die Bibel redet nur höchst sparsam von Engeln, eher beiläufig. Ihre Engel sind keine Figuren, die man abfotografieren und auf einem Steckbrief präsentieren könnte.

Gewissheit einer geheilten Existenz

Engel „gibt“ es genau so wenig wie Gott, meinte der 2000 gestorbene protestantische Alttestamentler Claus Westermann. Engel kann man nicht haben und fassen, man kann sich nur von ihnen berühren lassen. Westermann: „Die Engel, von denen die Bibel spricht, sind die unübersehbare und nicht wegzustreichende Chiffre für die Tatsache, dass wir Menschen auf unserer Erde, auf den Wegen unserer Erde und in den Häusern, die wir uns gebaut haben, nicht allein bleiben, sondern besucht werden.“1

Wir sind nicht allein gelassen in einer ziemlich chaotischen Welt – das ist die zeitlose Botschaft der biblischen Rede von den Engeln. „Ich bin da für euch“, so hat sich Gott dem Mose aus dem brennenden Dornbusch heraus vorgestellt (Ex 2,16). Die Engel machen solche tröstende Gegenwart plastisch erfahrbar. Gottes Geschöpfe sollen glücklich sein. Und offenbar befasst er sich auf erfinderische Weise mit unserem armseligen, hundertfach gefährdeten Dasein. Engel transportieren die Gewissheit, dass eine brüchige menschliche Existenz eines Tages doch noch ganz wird, dass alles Leid, alle Enttäuschung in einer unendlichen Liebe geborgen bleibt. 

1 Claus Westermann, „Gottes Engel brauchen keine Flügel“, Berlin 1957.

Deutschland Christian Feldmann
Bild: privat

Christian Feldmann, Buch- und Rundfunkautor, wurde 1950 in Regensburg geboren, wo er Theologie (u. a. bei Joseph Ratzinger) und Soziologie studierte. Zunächst arbeitete er als freier Journalist und Korrespondent, u. a. für die Süddeutsche Zeitung und arbeitete am „Credo“-Projekt des Bayerischen Fernsehens mit. In letzter Zeit befasst er sich mit religionswissenschaftlichen und zeitgeschichtlichen Themen. Zudem hat er bisher 51 Bücher publiziert. Dabei portraitiert er besonders gern klassische Heilige und fromme Querköpfe aus Christentum und Judentum. Feldmann lebt und arbeitet in Regensburg.

Kirchliche Verantwortung: Dr. Silvia Becker, Katholische Hörfunkbeauftragte und Alfred Herrmann