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Ende der Schonfrist für Barroso

Alexander Kudascheff, Brüssel2. März 2005

Neu gewählten Regierenden räumt man für gewöhnlich eine Schonfrist nach dem Amtsantritt ein. Das darf auch für den EU-Kommissionschef Barroso gelten. Doch seine Frist ist abgelaufen.

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Alexander Kudascheff

Die Kommission Barroso ist 100 Tage im Amt. Und so richtig glücklich ist wohl niemand mit ihr. Die Konservativen nicht, weil Barroso kein erkennbar konservatives Profil zeigt, sondern sich durchzulavieren versucht, indem er es allen recht machen will. Und die Linken auch nicht: Denn natürlich ist er ihnen nicht sozial genug, was immer das heißen mag.

So gibt es für Barrosos Arbeitsprogramm für die nächsten fünf Jahre zwar eine Mehrheit im Europaparlament, aber so richtig solide ist sie nicht. Vorwerfen sollte man das Barroso auch nicht, denn der Kommissionspräsident ist ein politisches Unikum. Auserwählt von den Staats-und Regierungschefs auf der Basis der politischen Machtverhältnisse im Europaparlament - die aber nicht so eindeutig sind. Mit anderen Worten: Die Konservativen haben die meisten Sitze, aber alleine nicht genug - und eine Verhinderungsmehrheit findet sich immer schnell, wenn nötig. So erklärt sich der Verbalradikalismus der Linken, die ständig viel fordern, weil sie wissen, dass sie es nicht einfordern können. Und dazwischen schwimmen die Liberalen als Zünglein an der Waage. Barroso braucht sie, doch die Liberalen sind kapriziös. Und sie geben ihre Stimmen nach liberaler Laune und nicht nach Fraktionsdisziplin. Und warum auch? Die beiden Großen hatten das Ämter- und Pöstchenschieben unter sich ausgemacht - auf Kosten der Liberalen. Also profilieren die sich auf Kosten der Großen. Und ärgern ganz nebenbei die wirklichen Bosse in Europa: die Staats- und Regierungschefs, wenn sie völlig zu recht gegen den zweiten Parlamentssitz in Straßburg und den einmonatlichen Wahnsinn des Akten- und Abgeordnetentransportes protestieren und fordern: Alles muss nach Brüssel. Da gehen in Paris nicht nur die Nackenhaare hoch.

Und der arme Kommissionspräsident Barroso? Er sitzt unbequem zwischen den Stühlen. Er weiß: Nur mehr Liberalisierung bringt Europa wirtschaftlich voran. Doch die beiden größten Bremser - die Linke in Berlin und die Rechte in Paris - sie wollen nicht, parteiübergreifend. Da wird das Handeln schwierig, wenn gleichzeitig auch noch das Schuldenmachen, das Immer-Mehr-Schuldenmachen zur wirtschaftlichen Vernunft (Eichel & Co.) erklärt wird. Da bleibt der Kommission nicht viel übrig außer einzuknicken.

Bemerkenswert in der Riege der Farblosen, der Profillosen hier in Brüssel: die charmante und durchsetzungsfähige Polin Danuta Hübner, zuständig für Regionalpolitik. Sie hat - angeblich, angeblich (!!) - gesagt, was man wohl sagen kann: Die Ukraine gehöre in die EU - und sie könne 2015 mit der Türkei zugleich beitreten. Pfiff und Anpfiff zugleich für die energische Danuta. Sie hat gesagt, was sie nicht sagen darf und soll, vielleicht nicht einmal denken darf und soll. Also: Zurück! Marsch, marsch!

Die Linie der Kommission heißt weiter: nur gute Nachbarschaft, keine Beitrittsperspektive für die Ukraine. Und was macht die arme Danuta: Sie lässt darauf verweisen, dass sie die Rede gar nicht gehalten habe, weil sich die Studenten in Sussex nicht dafür interessiert hätten. Alles klar: Hübner denkt - wie viele in Polen oder Litauen (und nicht nur dort) - doch was gegen die Kommissionsdisziplin verstößt ist weder gesagt noch gedacht. Auch eine Art Bilanz von 100 Tagen. Die Kommission Barroso, die erste mit Kommissaren aus den zehn neuen Ländern, bleibt lieber bedeckt. Anstöße aus Brüssel gibt es also nur - wenn sie nicht anstößig sind. Das ist ein bisschen wenig.