Politischer Schatten
6. Juni 2012Erstmals seit 36 Jahren – 1976 waren die besten Teams des Kontinents zu Gast im damaligen Jugoslawien – wird eine Fußball-Europameisterschaft wieder im Osten Europas ausgespielt. Doch die Vorfreude auf das Turnier in Polen und der Ukraine ist getrübt. Der Sport stand in den letzten Monaten häufig im Schatten der Politik. Der Fall der inhaftierten ukrainischen Oppositionsführerin Julia Timoschenko beherrschte die Schlagzeilen. Viele hochrangige westliche Politiker, darunter der neue französische Präsident François Hollande, wollen nicht in die Ukraine reisen, um damit gegen Menschenrechtsverletzungen in dem Land zu protestieren. "Ich liebe Fußball, aber was in der Ukraine passiert, ist ein Problem", sagte Hollande.
Kosten explodiert
Mit der Vergabe an einen Staat aus dem Verbund der früheren Sowjetunion hatte die Europäische Fußball-Union (UEFA) der Demokratisierung des Landes Rückenwind verleihen wollen. Doch die Ukraine entwickelte sich zu einem Problemfall – nicht nur politisch. Wegen der schleppenden Vorbereitungen drohte die UEFA mehrfach damit, dem Land die EM zu entziehen. Nach wie vor scheint die Infrastruktur der Ukraine dem sportlichen Großereignis nicht gewachsen zu sein. Zudem explodierten die Kosten. Wirtschaftsexperten erwarten, dass die Ukraine mit einem Milliardenverlust aus dem Turnier gehen wird. Für Co-Gastgeber Polen sind die Aussichten deutlich besser, auch wenn die Hoffnungen auf einen Wirtschaftsboom als Folge der EM überzogen scheinen.
Topfavoriten Spanien und Deutschland
Sportlich werden die beiden Gastgeberländer mit dem Ausgang des Turniers aller Voraussicht nach wenig zu tun haben. Sowohl die polnische als auch die ukrainische Mannschaft wären schon froh, wenn sie die Vorrunde überständen. Als Topfavoriten werden immer wieder Spanien und Deutschland genannt. Die Europa- und Weltmeister von der iberischen Halbinsel haben den Fußball in den vergangenen Jahren dominiert und führen die Weltrangliste souverän an. Allerdings fehlen den Spaniern wegen Verletzungen mit Abwehrchef Carles Puyol und Stürmerstar David Villa zwei Schlüsselspieler. Das deutsche Team mit dem jüngsten Durchschnittsalter aller Teilnehmer (24,4 Jahre) hat nach übereinstimmender Meinung der Experten spielerisch zu den Spaniern aufgeschlossen – auch wenn die letzten Testspiele einen anderen Eindruck vermittelten. "Gedanken an ein Misslingen habe ich definitiv nicht", sagte Bundestrainer Joachim Löw. Deutschland wartet seit dem EM-Sieg 1996 auf einen großen Titel.
Von der WM-Schmach erholt
Zeit, sich im Verlauf des Turniers zu steigern, hat die deutsche Mannschaft nicht. Mit Portugal, Vizeweltmeister Niederlande und Dänemark warten bereits in der Vorrunde harte Brocken. Viele trauen auch den Niederländern den EM-Titel zu. Daneben gehören Frankreich und Italien zum Favoritenkreis. Beide Teams haben sich von ihrem schmählichen Scheitern in der WM-Vorrunde 2010 erholt. Frankreich ist sogar seit 20 Spielen ungeschlagen. Vielleicht spricht ja auch England, das Mutterland des Fußballs, wieder einmal ein Wort bei der Titelvergabe mit.
Das Eröffnungsspiel zwischen Gastgeber Polen und Griechenland wird am kommenden Freitag (08.06.2012) in Warschau angepfiffen. Das Finale, das letzte der 31 EM-Spiele, steigt am 1. Juli in Kiew. Daneben gibt es noch sechs weitere Spielorte: Danzig, Breslau und Posen in Polen sowie Donezk, Charkow und Lwiw in der Ukraine. Es wird also eine Europameisterschaft der langen Wege.
Großes Polizeiaufgebot
Beide EM-Gastgeber wollen das Thema Sicherheit groß schreiben. Polen hat strenge Grenzkontrollen angekündigt. Hooligans sollen schon bei der Einreise abgefangen werden. Rund 10.000 polnische Sicherheitskräfte sind bei der EM im Einsatz. Die Ukraine bietet an Spieltagen in den Großstädten 7000 Polizisten und Milizionäre auf. Auch die Regierung in Kiew hat die Devise ausgegeben: Null Toleranz gegenüber Gewalttätern. Die Gefangenenhilfe-Organisation Amnesty International beklagt, dass die ukrainischen Sicherheitskräfte bei ihren harten Einsätzen – nicht nur gegen Oppositionelle, sondern auch gegen Fußballfans - häufig selbst die gesetzlichen Grenzen überschreiten.