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Literatur

Strenge Moralistin - Elfriede Jelinek ist 70

20. Oktober 2016

Was haben Bob Dylan und Elfriede Jelinek gemeinsam? Beide haben den Blues, er mit Musik, sie mit Literatur. Beide haderten mit dem Literatur-Nobelpreis. Und nach Dylan ist jetzt auch die Dramatikerin 70.

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Elfriede Jelinek österreichische Schriftstllerin
Bild: picture-alliance/dpa/R. Schlager

Der Mann reagiert einfach nicht. "Bob Dylan – bitte melden!" heißt es seit Tagen, seit das Stockholmer Nobelkomitee dem US-Musiker die höchste Literaturauszeichnung zusprach. Der Appell könnte genauso gut Elfriede Jelinek gelten. Seit ihrer Ehrung vor zwölf Jahren zog sie sich merklich aus der Öffentlichkeit zurück. Noch in den 1980er und 90er Jahren füllte sie die Rolle der unbequemen, scharfzüngigen Moralistin. Interviews gibt sie inzwischen nur noch selten. Die Frankfurter Buchmesse, die Plattform für Literaten überhaupt, findet auch dieses Mal ohne "die Jelinek" statt. Präsent ist die Jubilarin trotzdem.

"Wut" heißt das jüngste ihrer Theaterstücke, mit denen sich Jelinek immer wieder unüberhörbar zurückmeldet. Uraufgeführt und bejubelt wurde es im April an den Münchener Kammerspielen. Die Wut religiöser Fanatiker und die Wut vermeintlich anständiger Bürger waren das Thema. Bestürzung löste erst im Oktober der Sturm einer Gruppe Rechtsextremer aus, als im Audimax der Universität Wien Jelineks Flüchtlingsstück "Die Schutzbefohlenen" (Foto) aufgeführt wurde. Die Störer verspritzten Kunstblut, warfen Flugblätter mit dem Slogan "Multikulti tötet" ins Publikum. Es kam zu Rangeleien. Elfriede Jelinek regt auf, zumal in Österreich.

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Elfriede Jelinek erfährt vom Gewinn des Literatur-Nobelpreises 2004Bild: AP

Nicht nur in ihrem Heimatland hat sich Elfriede Jelinek den Ruf einer radikalen Feministin und Provokateurin erworben, deren Werk zwar "auf artistischem Sprachniveau rangiert" (Der Spiegel), dafür aber schwer zugänglich ist. Als "Kunst- und Kulturschänderin" prangerten sie viele Alpenländler an, verunglimpften sie als "rote Pornografin". "Die Presse bemächtigte sich der öffentlichen Figur Jelinek mit geradezu obszönem Geifer und zog sie über Titelseiten und Plakatwände", erinnert die österreichische Schriftstellerin Olga Flor in einem Beitrag für die Wiener Zeitung "Der Standard". Für Österreich dürfte die Würdigung Jelineks zum 70. Geburtstag am 20. Oktober schwierig werden.

Jelineks Werk umfasst Romane, Theaterstücke, Gedichte, Hörspiele, Essays und Drehbücher. In Österreich und Deutschland räumte die Autorin, die abwechselnd in Wien und München lebt, alle maßgeblichen Auszeichnungen ab - den Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln (1986) ebenso wie den Georg-Büchner-Preis (1988), den Mülheimer Dramatikerpreis (2002/2004) ebenso wie den Hörspielpreis der Kriegsblinden (2004). Als "Erzählerin von höchstem Raffinement und Können" würdigte sie Ivan Nagel, der 1988 die Laudation zur Verleihung des Büchner-Preises hielt. Ihr Werk sei erbarmungslos realistisch, fast unerträglich, "aber es ist groß und notwendig."

Seit Jahrzehnten schreibt Elfriede Jelinek gegen Missstände im öffentlichen, politischen, aber auch im privaten Leben der österreichischen Gesellschaft an. Sie benutzt einen sarkastischen, provokanten und wohl deshalb verstörenden Stil. Viele ihrer Werke kreisen um das Verdrängen der Nazi-Vergangenheit Österreichs, die wachsende Fremdenfeindlichkeit und den Aufstieg der Rechtspopulisten.

Die Schutzflehenden Die Schutzbefohlenen Schauspiel Leipzig
Szenenbild aus "Die Schutzbefohlenen" am Schauspiel LeipzigBild: picture-alliance/dpa/S. Willnow

Autorin aus der Heimat Sigmund Freuds

Jelinek, am 20. Oktober in Mürzzuschlag in der Steiermark geboren, wuchs in Wien auf. Sie stammt nicht nur aus dem Heimatland des Psychoanalytikers Sigmund Freud, sie wurde auch schon als junge Frau mit eigenen psychischen Problemen und der Nervenkrankheit ihres Vaters konfrontiert. Von einer "dämonischen" Mutter, sei sie zum Wunderkind mit Tanz- und Musikunterricht "dressiert" worden, erzählte sie einmal. Sie habe zu schreiben begonnen, um der Bevormundung der Mutter zu entkommen.

Doch auch die Debatten um ihre Romane, Gedichte und Theaterstücke dürften nicht spurlos an ihr vorübergegangen sein. Ihr frühes Buch "Lust" spießte die Männer- und Klassengesellschaft auf und prangerte die sexuelle Unterdrückung der Frau an. Ihr – später verfilmter - Roman "Die Klavierspielerin" (1983) ätzte gegen strukturelle Gewalt im Privaten, "Babel, Die Kinder der Toten oder Stecken, Stab und Stangl" (1995) skandalisierte die Medien- und Politikerreaktion auf die Morde an vier burgenländischen Roma. In ihrem Flüchtlingsdrama "Die Schutzbefohlenen" (2014) fragte Jelinek nach dem Umgang mit Geflohenen.

Als Elfriede Jelinek 2004 die Nachricht vom Literatur-Nobelpreis erreichte, war sogar ihr Berliner Verlag überrascht. Der Verleihung blieb Jelinek fern, während sie das Preisgeld behielt. Auch das könnten Elfriede Jelinek und Bob Dylan gemeinsam haben. Falls sich Dylan bis dahin meldet.