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Einstürzende Altbauten

Stephan Hille, Moskau21. März 2006

Einst waren sie der Traum für Millionen von Werktätigen, heute sind sie für die meisten ihrer Bewohner nur noch ein Alptraum: die Chruschtschowka-Mietskasernen aus den fünfziger Jahren.

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Gebaut nicht für die Ewigkeit, sondern um das dringende Wohnraumproblem in der Nach-Stalin-Zeit zu lindern, wurden die Plattenbauten rasant schnell hochgezogen. Nun sollen zumindest in Moskau die fünfstöckigen Wohnhäuser aus der Zeit des ehemaligen sowjetischen KP-Chefs Nikita Chruschtschow verschwinden. Sie sind dem Bürgermeister Juri Luschkow ein Dorn im Auge. Bis 2009 sollen alle "Chruschtschowki" in Moskau abgerissen werden. Sie gelten als nicht mehr zeitgemäß, viele sind seit ihrem Bau nicht mehr renoviert worden und verrotten langsam vor sich hin. Vor allem aber braucht man ihren Platz für neue, höhere und exklusivere Wohnhäuser in der boomenden Metropole, in der die Immobiliepreise rasant und stetig steigen.

Chruschtschowka schlug Kommunalka


Wer in den fünfziger Jahren in eine Chruschtschowka-Wohnung ziehen konnte, für den ging ein Traum in Erfüllung. Schließlich war in den tristen Nachkriegsjahren die eigene Wohnung ein nahezu unerfüllbarer Wunschtraum. Das Gros de r Bevölkerung lebte bis dahin in einer Kommunalka-Wohnung, in der sich mehrere Familien Küche und Bad teilen mussten.

In die Kommunalka, die verhasste Gemeinschaftswohnung, waren die Russen nach Oktoberrevolution und Bürgerkrieg gezwungen worden. In Moskau und Leningrad sowie den übrigen Metropolen wurde gegen Ende der zwanziger Jahre der Wohnraum knapp. Durch die forcierte Industrialisierungspolitik stieg der Anteil der Bevölkerung in den Städten an, ohne dass der Wohnungsbau hinterher kam.

Bürgerwohnungen zu Zwangsgemeinschaften


Gleichzeitig gab es vor allem in St. Petersburg und in Moskau die großen Bürgerwohnungen, deren Mieter oder Eigentümer - sofern sie nicht verhaftet worden waren - nun zusammenrücken mussten. Die Bolschewiki hielten es für gerecht, dass nun vor allem die Arbeiter in schönen Wohnungen leben sollten, zumindest in einem kleinen Teil davon. Pro Zimmer eine Familie, oder auch mehr. Neue Wände wurden eingezogen, zunächst aus Sperrholz, später auch aus Stein, so wurden aus den Bürgerwohnungen riesige (Zwangs)-Wohngemeinschaften. Die "Chruschtschowki" boten daher im Vergleich zu den verhassten "Kommunalki" beinahe schon paradiesischen Komfort. Die Mietskasernen hatten überall im Land den gleichen Standard: Eine etwa fünf Quadratmeter große Küche, einen engen Flur und maximal drei Zimmer.

Viel Raum für Privates blieb auch hier nicht: Die Wände zwischen den Wohnungen waren so dünn, dass kaum etwas vor den Nachbarn verborgen blieb. Heute bringen die veralteten Strom- und Wasserleitungen die meisten Probleme. "Diese Wohnungen enstprechen keinen zivilsierten Standards", erklärte Bürgermeister Juri Luschkow jüngst. "Es wäre ein Albtraum, wenn diese Häuser mit ihren niedrigen Decken, ohne Fahrstühle und Müllschlucker weiter in Moskau erhalten bleiben würden."

Der gleiche Fehler


Nach und nach werden die Mietskasernen nun mit der Abrissbirne dem Boden gleichgemacht. Die Mieter werden in Neubauten umgesiedelt. Zwar sind die meisten Chruschtschowka-Mieter froh, in ein neues Domizil umzuziehen, doch sorgt die Umsiedlungskampagne auch bei vielen für Unmut. Denn längst nicht alle bekommen wie versprochen eine neue Wohnung im gleichen Viertel zugewiesen. Vor allem aber scheint sich der gleiche Fehler wie vor fünfzig Jahren zu wiederholen: Viele der Neubauten werden in Rekordtempo errichtet, so dass Qualität und Sicherheit häufig auf der Strecke bleiben. So beginnt für viele neue Mieter der Umzug in die eigentlich nagelneue Wohnung erst einmal mit einer gründlichen Renovierung.