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Gemalte Lektüre im Franz Marc Museum

Myriel Desgranges
17. Juni 2018

Leser tauchen oft in eine andere Welt ab - und genau das faszinierte und animierte viele Maler dazu, die Versunkenen auf der Leinwand zu bannen. Das Franz Marc Museum widmet diesen Bildern eine ganze Ausstellung.

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Pablo Picasso, La Lecture, 1953
Pablo Picasso: La Lecture, 1953Bild: bpk/Nationalgalerie, SMB, Museum Berggruen/Jens Ziehe

Lesen wir ein Buch, können wir neue Menschen kennenlernen, ferne Orte bereisen und fremde Kulturen erleben. Wir überlassen uns der Fantasie, schulen unsere Vorstellungskraft und kreieren vor unserem geistigen Auge eigene Bilder. Dabei sind wir meist hochkonzentriert, nehmen zwar Sinneseindrücke von außen war, haben uns aber eigentlich aus der Realität zurückgezogen und befinden uns ganz woanders.

Das Franz Marc Museum in Kochel am See widmet sich für gewöhnlich Werken des expressionistischen Malers Franz Marc. Zum zehnjährigen Jubiläum soll es jedoch einmal nicht explizit um ihn gehen, stattdessen dreht sich vom 17. Juni bis 23. Juni alles ums Lesen - oder besser gesagt: um Leser aus verschiedenen Epochen. 

Die Lesenden

Ausstellung Bilder vom Lesen - Vom Lesen der Bilder: Jean-Etienne Liotard
Jean-Etienne Liotards Leserin präsentiert sich exotisch gekleidet Bild: Sammlung Schirmer/München

Viele Künstler haben im Laufe der Zeit mit immer neuen bildnerischen Mitteln Lesende porträtiert, deren Gesichter verschlossen und deren Gedanken und Gefühle nicht zu erkennen sind. In der Schau im Franz Marc Museum findet sich zum Beispiel ein Werke aus dem 18. Jahrhundert: "Die Lesende" von Pastell- und Emailmaler Jean-Éteinne Liotard. Die orientalische Kleidung unterstreicht hier die "Exotik" ihrer Tätigkeit im 18. Jahrhundert, als nur die höheren Schichten des Lesens mächtig waren. Daneben ist ein Bild des Expressionisten Erich Heckel vertreten, dessen Lesende sich aus den ärmlichen Verhältnissen ihrer Existenz in eine bessere Welt flüchten. Bei all diesen Gemälden wird der Zustand der absoluten Versenkung und der Abgeschiedenheit von der Realität während des Lesens thematisiert.

Schrift als Medium des Ausdrucks

In der Ausstellung werden jedoch nicht nur Bilder von Lesern gezeigt. Mit abstrakten Werken von Cy Twombly, Paul Klee oder Jaques Villeglé wird darüber hinaus noch ein weitere Thematik aufgegriffen: das Lesen von Bildern bzw. das Lesen und Interpretieren von Kunstwerken. Die Künstler entwickeln aus Schriftzeichen die Grundstruktur ihrer Werke und veranschaulichen so, wie sich Wörter und Bedeutungen, Zeichen und Gezeichnetes miteinander verbinden lassen. 

Ausstellung Bilder vom Lesen - Vom Lesen der Bilder: Jaques Villeglé
Ein Kunstwerk von Jaques Villeglé, das mit der Verbindung von Wort und Bedeutung spieltBild: ahlers collection/VG Bild-Kunst 2018

Die Inspiration für die Ausstellung lieferte das Werk "Tage des Lesens" von Marcel Proust, der davon ausgeht, dass der Leser von einem Buch stets zu einer eigenständigen schöpferischen Leistung angeregt wird, so die Direktorin des Franz Marc Museums in Kochel am See, Cathrin Klingsöhr-Leroy. "Im Buch wird der Zustand und die kreative Aktivität während des Lesens besonders detailliert beschrieben."

Gleichzeitig sei es für sie als Kuratorin interessant zu sehen, wie Maler das Zusammenspiel von Schrift und Bild verwenden und den Betrachter so ebenfalls dazu bringen würden, ihre Bilder zu lesen. Zwischen dem Lesen und dem Betrachten von Kunstwerken gibt es laut Klingsöhr-Leroy verschiedene Gemeinsamkeiten: "Die Bildbetrachtung ist wie das Lesen auch ein Prozess, der sich über Zeit hinweg abspielt, er ist nicht bloß eine Momentaufnahme."

Bibliothek in der Villa Medici, Foto von Candida Höfer
Auch in der Ausstellung: eine Aufnahme der Fotokünstlerin Candida Höfer, die eine Bibliothek in der Villa Medici fotografierteBild: Sammlung Schirmer/München

Der nächste Band des Romans

Beim Betrachten eines Kunstwerkes werde genau wie beim Lesen eines Buches außerdem der Kreativität freien Lauf gelassen, so Klingsöhr-Leroy. Und abstrakte Gemälde wie die von Cy Twombly, Paul Klee oder Jaques Villeglé erforderten Zeit: "Unser eigener Blick und unsere Vorstellungskraft beeinflusst die Interpretation." Auch sie selbst als promovierte Kunsthistorikerin finde nicht zu jedem Kunstwerk immer sofort einen Zugang, gesteht sie. Anders sei das bei Werken von Künstlern, die sie bereits kenne: "Das ist so, als würde man bei einem Roman den nächsten Band beginnen. Man kennt die Geschichte, weiß aber noch nicht, was als nächstes kommt." 

Zeit für entspannte Lektüre? 

Eröffnet wird die Ausstellung mit einem Werk der Künstlerin Tacita Dean und einem Zitat des Berliner Philosophen und Kulturhistorikers Walter Benjamin. Dean versenkte ein Buch für zwei Wochen in einer Saline. Als sie es wieder herausnahm, war es völlig verblichen, die Seiten ließen sich nicht mehr umblättern, die Literatur war nicht mehr zugänglich. Benjamins Zitat aus den 1920er Jahren nimmt darauf Bezug:"Die Zerstreuung heute ist so groß, dass wir nicht mehr in die Stille eines Buches vordringen können." Heute, fast 100 Jahre später, hat es den Anschein, als wäre die Zeit für entspannte Lektüre noch stärker gefährdet - oder doch nicht? "Es erscheint utopisch, sich für einen längeren Zeitraum auf eine Sache zu konzentrieren, sich der Dauerkommunikation via Smartphone zu entziehen und sich Kunst oder Literatur hinzugeben", so die Kuratorin. Gleichzeitig und gerade deshalb nehme das Interesse am Lesen wieder zu: "Ein passendes Thema also für die Jubiläumsausstellung." 

Die Ausstellung "Lektüre Bilder vom Lesen - Vom Lesen der Bilder" läuft vom 17. Juni bis zum 23. September 2018 im Franz Marc Museum in Kochel.

Ein Buch mit einer dicken Salzschicht
Dieses Buch gibt seinen Inhalt nicht mehr preis, nachdem Künstlerin Tacita Dean es für zwei Wochen in einer Saline versenkteBild: Marian Goodman gallery