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Sibiren statt Jugendknast

Mareike Aden22. Februar 2007

Die Zahl krimineller Jugendlicher in Deutschland steigt. Soziale Maßnahmen scheitern oft, die Jugendlichen rutschen immer tiefer in die kriminelle Szene. Experten fordern härtere Strafen. Doch es gibt auch andere Wege.

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Jugendlicher kniet auf Brust von anderem Jugendlichen und entwendet Geldbörse
Jugendkriminalität auf dem SchulhofBild: picture-alliance/ dpa

Von der russischen Band "Pjatniza" hatte der heute 17 Jahre alte Nico Schneider noch nichts gehört als er vor 18 Monaten in Hannover in ein Flugzeug der Sibirien Airlines stieg. Sein Ziel: Omsk. Nun, zurück in Deutschland, hört er oft russische Musik. Sie erinnert ihn an ein Auslandsjahr, das nicht freiwillig, aber unvermeidbar war.

"Meine Mutter war erstmal geschockt, das hat man ihr angesehen", erinnert er sich. „So: äh, was? Russland?" Aber im Endeffekt denke er auch, dass sie es sehr gut fand, dass er noch mal bei null anfangen konnte, damit es dann wieder bergauf ginge.

Das war auch nötig. Denn schon mit 15 Jahren war Nico ganz weit unten: Drogen, Diebstahl und Betrug gehörten zu seinem Alltag. Dauernd lief er von zu Hause weg, weil er Streit mit dem Stiefvater hatte. Das Auricher Jugendamt war ratlos und fragte den deutsch-russischen Pädagogen Wladimir Krämer, der Jugendstraftäter betreut, ob er noch Kontakt nach Russland habe. Nico müsse raus aus seinem Umfeld. Ein Richter stellte Nico vor die Wahl: Sibirien oder Jugendknast.

Kein Auffanglager für "eure Kriminellen"

Winterlandschaft bei Omsk
Winterlandschaft bei OmskBild: www.projekt-sibirien.de

Nico entschied sich seine letzte Chance anzunehmen. Wladimir Krämer suchte in der Region um seine Heimatstadt Omsk herum eine Familie, wo Nico ein Jahr lang wohnen konnte. Eine wichtige Bedingung war: Einer der beiden Elternteile musste pädagogisch tätig sein. Außerdem sollte es möglichst keine jüngeren Geschwister geben, damit Nico keinen schlechten Einfluss auf sie nehmen konnte.

Die Familien seien sehr vorsichtig gewesen und hätten viele Fragen und Vorbehalte gehabt, erzählt Krämer. "Sie haben immer gesagt: Wenn, das nicht klappt, dann muss er gleich wieder weg." Der Gedanke "eure Kriminellen wollen wir nicht haben" habe hinter jedem Satz geschwebt. Die Familien wollten gerne helfen, aber nicht nur Auffanglager sein.

Pauken fürs Exil

Eine Familie, die Wladimir Krämer aus seiner Zeit in Russland kannte, erklärte sich schließlich bereit, Nico für ein monatliches Betreuungsgeld aufzunehmen. In Deutschland gingen die Vorbereitungen in die letzte Phase: Nicos Eltern stimmten zu, ebenso Jugendamt und Richter. Ein psychologisches Gutachten bestätigte, dass Nico die Belastung auf sich nehmen konnte. Bis zum letzten Tag hätte er noch absagen können, doch er stieg ins Flugzeug.

Das was er aus dem Flugzeug gesehen habe, habe ihn an eine ganz schöne Stadt denken lassen. Aber als er im Auto saß, hat er die kaputten Straßen gesehen. „Da hab ich schon gedacht: Oh, was ist denn hier?“, erzählt Nico. „Dann hat uns die Familie abgeholt.“ 40 Kilometer seien sie gefahren, ohne irgendwo unterwegs ein Haus zu sehen. Da war nur Natur, wo diese Straße durchführte. Und der erste Eindruck, als Nico dann am nächsten Morgen das Dorf sah: "Das hat mir dann doch gefallen."

Haus in Sibirien
Haus in SibirienBild: www.projekt-sibirien.de

Das Dorf, in das Nico kam, gehört zur Stadt Asowo. Früher war deutsch hier Amtssprache, doch mittlerweile spricht kaum einer der 22.000 Bewohner mehr Nicos Sprache. Deshalb hatte Nico vor seinem Abflug ab und zu mit Wladimir Krämer russische Basisgrammatik und die wichtigsten Wörter gepaukt. Nach einer Weile in der Pflegefamilie klappte es dann doch recht gut mit der Verständigung.

Veränderungen

Das sich Nicos Verhalten nicht sofort ins Positive wandeln würde, damit hatte Wladimir Krämer gerechnet und deshalb die betreuende Familie umfassend über Nico informiert. Auch die örtliche Polizei wurde über Nicos Kriminelle Vergangenheit unterrichtet. Freunde der Familie und Lehrer seiner Schule wussten Bescheid und kümmerten sich entsprechend um ihn. Nach und nach fand er Freunde, in der Schule und im Sportverein. Er half im Haushalt. Aber es gab auch Krisenzeiten zum Beispiel wenn es darum ging, wie viel Alkohol er trinken durfte, oder wie lange er abends wegblieb.

"Das hat mir doch schon sehr viel gebracht", sagte Nico heute. "Ich bin viel ruhiger geworden, ich kann zu mehreren Sachen nein sagen, was ich vorher nicht konnte." Außerdem denke er mittlerweile darüber nach was er mache, bevor er es mache. "Damit es nicht wieder auf die falsche Bahn geht."

Familie und Bekannte waren überrascht von dem veränderten Nico, der nach zwölf Monaten wieder kam. Wladimir Krämer, ist überzeugt, dass das Leben in Russland und die Mentalität dort jungen Menschen mit Problemen, wie Nico sie hat, gut tut.

Schwieriger Start in Deutschland

"Erstens sind das meist intakte Familien, Mann, Frau, ein Kind möglich, aber nicht unbedingt. Beide sind immer berufstätig", erläutert der Pädagoge. Mann und Frau hätten die gleichen Rechte und Pflichten und beide steuerten zum Zusammenleben bei. Es gebe eine klare Rollenverteilung, das sei irgendwie klarer, nicht verschwommen. "Und ich glaube in diesem Alter und in dieser Situation da brauchen die Jugendlichen diese Klarheit", meint Krämer. "Das darf man nicht mit autoritär verwechseln, es ist klar und diese Klarheit gibt Halt und ich denke, das hat ihm geholfen."

Dennoch, die ersten Monate in Deutschland waren schwierig für Nico, eine Ausbildung in einer Bäckerei brach er nach zehn Tagen ab. Aber er meidet die Kumpels von früher. Und möchte nach einem Praktikum den Hauptschulabschluss nachholen. Und im März fliegt er für eine Woche nach Omsk zu seiner Pflegefamilie. Aber diesmal nur zu Besuch.