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Wachstum bekämpfen

30. November 2009

Lars Schmidt und Pierre Ibisch haben in ihrer letzten Gastkolumne vom 19. Oktober ein neues Verständnis der Nachhaltigkeit gefordert. Nicht Armutsbekämpfung muss das Ziel sein, so die These, sondern Wachstumsbekämpfung.

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Bild: DW

Eigentlich ist es ganz einfach zu verstehen, könnte man meinen: Auf der Erde, einem Planeten begrenzter Größe mit begrenzten Ressourcen, stößt Wachstum von Teilsystemen irgendwann an Grenzen. Nein, lautet die Replik, die Erde ist ein offenes System – Energie wird von außen zugeführt, und diese Energie stellt die Sonne für Jahrmilliarden in schier unerschöpflicher Menge zur Verfügung. Duplik: Der Mensch lebt nicht allein von Luft und Sonnenstrahlen. Sonnenenergie kann durch Photosynthese nur von pflanzenartigen Lebewesen (und verschiedenen Bakterien) direkt genutzt werden. Alle tierischen Konsumenten – und damit auch die Menschen – sind darauf angewiesen, dass ihnen die Energie der Sonne in Form von organischen Kohlenhydraten durch Pflanzen zur Verfügung gestellt wird. Zudem sind Pflanzen fundamentale Komponenten der Ökosysteme dieser Erde; welche wiederum eine Vielzahl anderer Ökosystemfunktionen für uns bereitstellen und damit für uns geeignete Lebensbedingungen schaffen. Das Wachstum der Menschheit drängt funktionstüchtige Ökosysteme zurück, die entsprechend für zusehends mehr Menschen mit wachsenden Bedürfnissen immer weniger Leistungen bereitstellen können. Wir konsumieren unsere Lebensgrundlage.

Eine Gesellschaft, die über längere Zeit die Kapazität der sie tragenden Ökosysteme überlastet und degradiert, wird unweigerlich einen tief greifenden Transformationsprozess durchlaufen. Im Extremfall steht der Kollaps, d.h. die Auflösung von Strukturen und Merkmalen, über die sich komplexe menschliche Gesellschaften definieren: von politischen Institutionen bis hin zu kulturell-integrierenden Mechanismen wie etwa Moralsystemen. Kollaps oder Disaggregation komplexer menschlicher Gesellschaften sind historisch gesehen wohl bekannte Prozesse, die in der Geschichte dank weit reichender Isolation der Gesellschaften allerdings lokal oder regional abliefen. Aufgrund des vom Menschen verursachten globalen Umweltwandels sowie der intensiven globalen Verflechtung und der damit geschaffenen gegenseitigen Abhängigkeit fast aller Teilsysteme der menschlichen Gesellschaften ist es erschreckend plausibel, dass bei längerfristiger Überschreitung unserer ökologischen Grenzen ein dominoartiger bzw. sich aufschaukelnder Kollaps eintreten könnte.

Wachstum ist Selbstzweck

Hauptverantwortlich für die globale Tragfähigkeitskrise ist unser derzeitiges kapitalistisches Entwicklungsmodell, welches dem Primat des (Wirtschafts-) Wachstums folgt. Wachstum wurde und wird selbstverständlich auch unabhängig vom ökonomischen Entwicklungsmodell durch grundlegende Bedürfnisse einer wachsenden Weltbevölkerung erzeugt. Das kapitalistische Wirtschaften allerdings potenziert den Ressourcenverbrauch der wachsenden Erdbevölkerung. Wachstum ist Selbstzweck und Ziel bzw. auch Bedingung des Kapitalismus. Andere prominente Entwicklungsmodelle wie der Sozialismus bieten zwar angeblich eine sozialverträglichere, aber keineswegs ökologische, akzeptable Alternative zum Wachstumsparadigma. Sozialistische Staaten wuchsen und wachsen u.U. langsamer, sind jedoch wesentlich ineffizienter hinsichtlich des Energie- und Ressourcenverbrauchs pro Produktionseinheit.

Der Finanzkapitalismus hat sich in Abwesenheit globaler Regeln verselbstständigt. Im Interesse der oberen Einkommensschichten, der Kapitaleigner, treibt er die Realwirtschaft zu immer größeren Wachstumsraten an, beschleunigt die Degradation der Ökosysteme und untergräbt die Integrität menschlicher Gesellschaften. Sind wir also schlicht Opfer des Kapitalismus? Aber nein, denn wer ist schon immun gegen die Verführung eines stetig wachsenden Zugangs zu Ressourcen, Mobilität und Freiheit?! Die Welt zu bereisen, Produkte aus aller Welt zu konsumieren, Wissen für immer weniger Kosten zu erwerben und sich von immer neuen Medien anregen und unterhalten zu lassen – was dereinst ein Privileg der herrschenden Eliten war, ist innerhalb kürzester Zeit zu einem Massenphänomen geworden. Und es ist nicht der Spaß am Konsum allein. Immer schon wurden Menschen bevorteilt, welche ihren guten Ruf mit Statussymbolen untermauern konnten.

Auch Arme hinterlassen einen ökologischen Fußabdruck

Um weiterhin hohe Wachstumsraten aufrechterhalten zu können, haben wir im Rahmen der Globalisierung dieses Modell exportiert und durch die globale Vernetzung der Informationssysteme weltweit materielle Wünsche geschürt, welche zunächst gar nicht den kulturellen Gegebenheiten entsprachen und vor allem jenseits grundlegender menschlicher Bedürfnisse liegen. Zwar profitierten bereits in den 1990er Jahren jene, die von weniger als einem Dollar pro Tag leben, nur zu 0,6 Prozent vom globalen Wirtschaftswachstum. Doch auch diese Verlierer des Systems können dank eines revolutionär verbesserten Zugangs zu Medien und Informationstechnologie ihre Situation zunehmend besser einordnen. Sie profitieren auf geradezu zynische Weise vom weltweiten Wirtschaftswachstum und der mit ihm einhergehenden Globalisierung, indem ihnen die Hoffnung eingeflößt wird, der derzeitigen Misere entrinnen zu können.

Perverserweise gibt es außerdem eine Entwicklung in den Entwicklungsländern, die die armen Menschen in das globale ökologische Degradations- und Wirtschaftssystem integriert, ohne dass sich dabei ihre Lebensumstände nennenswert verbessern. Beim Übergang von der ruralen Armut von Subsistenzbauern zur urbanen Handlangerarmut müssen sich Versorgungs- und Ernährungssicherheit bzw. physische und psychische Gesundheit der Menschen nicht notwendigerweise verbessern. Dafür werden im Rahmen von Urbanisierung und Industrialisierung stetig wachsende Teile der Bevölkerung gezwungen, sich mithilfe von fossilen Energieträgern z.B. zu bewegen oder mit ihnen zu kochen. So wächst in der Regel auch der ökologische Fußabdruck jener, die nicht wirklich vom Wirtschaftswachstum profitieren.

Wachstum reduziert Armut nur teilweise

Gleichzeitig sind es die Ärmsten der Welt, die am stärksten unter den negativen Folgen des Wirtschaftswachstums zu leiden haben: kein Zugang zu Trinkwasser, steigende Produktionsrisiken u.a. als Folgen des Klimawandels, Desertifikation, Verlust von Anbauflächen und Ernährungssicherheit. Und je reicher die Reichen werden, desto größer die Zahl marginalisierten Menschen. Nachdem für einige Zeit die Zahl der hungernden Menschen sank, scheint trotz fortgesetzten Wachstums von Wirtschaftsleistung und Nahrungsmittelproduktion gerade in Entwicklungsländern eine Kehrtwende erreicht.

Wachstum reduziert Armut; aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Die mannigfaltigen Krisen, mit denen wir es aktuell zu tun haben, Biodiversitätskrise, Klimakrise, Bodenkrise, Fischereikrise …, zeigen deutlich, dass wir es uns schlichtweg nicht leisten können, Wachstum in Entwicklungs- und Schwellenländern ohne gleichzeitige Reduktion des ökologischen Fußabdrucks in den Industrieländern zur Armutsbekämpfung einzusetzen. Ansonsten nähern wir uns mit großen Schritten dem konkreten Risiko des Kollaps oder der Disaggregation des Anthroposystems. Im Sinne eines gleichen Rechts auf Entwicklung und auf der Grundlage von moralischen bzw. ethischen und bis hin zu sicherheitspolitischen Überlegungen führt an einer massiven Reduktion des ökologischen Fußabdrucks der Industrieländer kein Weg vorbei.

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Reduktion der Treibhausgase ist nicht alles

Dabei ist ein Missverständnis, dass eine Reduktion des ökologischen Fußabdrucks schlicht mit der Reduktion der Treibhausgase erreicht werden kann. Ein „Green New Deal“, allenthalben symbolisiert durch Windräder und Solaranlagen, soll es richten. Leider ist eine kohlenstoffarme Entwicklung nicht gleichzusetzen mit nachhaltiger Entwicklung. Eine kohlenstoffarme Entwicklung reduziert zwar die Treibhausgasemissionen, doch für die Produktion von z.B. Solarthermiekraftwerken und Windkraftanlagen sind große Mengen an (fossiler) Energie und Rohstoffe notwendig. So beseitigt eine kohlenstoffarme Entwicklung keineswegs das Wachstumsproblem und seine Treiber – das Bevölkerungswachstum und den Kapitalismus/Konsumismus – und die damit verbundene notwendigen Erhöhung landwirtschaftlicher und industrieller Produktion.

Während es in der Landwirtschaft zu einer Intensivierung oder Ausweitung der landwirtschaftlichen Fläche kommen muss, wird die industriellen Produktion, wenn auch kohlenstoffarm, die Belastung von Wasser, Boden und Luft und damit auch der menschlichen Gesundheit erhöhen und gleichzeitig Naturressourcen verknappen. Auch die Überfischung der Meere und der steigende Wasserverbrauch werden durch kohlenstoffarme Entwicklung nicht gestoppt bzw. reduziert. Kohlenstoffarmes Wachstum bedeutet also hauptsächlich die Nutzung alternativer Energieträger, um weiter zu wachsen. Wachstum und kohlenstoffarme Entwicklung mögen vereinbar sein, mit Nachhaltigkeit hat dies indes nichts zu tun.

Abschied vom Wachstumsmodell

Das kapitalistische Entwicklungsmodell hat einem Teil der Weltbevölkerung in vergleichbar kurzer Zeit enormen Wohlstand beschert. Dabei haben wir jedoch in unglaublicher Geschwindigkeit die ökologische Tragfähigkeit unseres Planeten erreicht und überschritten und gleichzeitig große soziale Ungleichheit geschaffen. Ein auf Wachstum begründetes Entwicklungsmodell ist damit, im wahrsten Sinne des Wortes, nicht mehr tragfähig, auch wenn viele (und die Starken besonders stark ...) immer noch von diesem System profitieren.

Wir müssen uns deshalb vom Wachstumsmodell verabschieden: Effizienz und qualitatives Wachstum reichen nicht aus. Aber wohin geht die Reise, und was erwartet uns? Wie sieht die vielbeschworene Post-Wachstumsgesellschaft aus? Und viel wichtiger, wie schaffen wir die Transformation – und zwar möglichst sanft, ohne ernste Konflikte? Ist eine freiwillige Transformation in demokratischen, liberalen Systemen überhaupt realistisch, oder müssen wir aktiv anfangen, unser eigenes, uns mit Spaß und Einkommen versorgendes System zu boykottieren und zu sabotieren?

Sich an Grenzen auszurichten heißt, dass es keine Tabus geben darf. Alles muss auf den Prüfstand, wir müssen ggf. lernen, lieb gewonnene „Errungenschaften“ loszulassen. Der Weg zu einer wahrhaftigen Nachhaltigkeit bedarf einer “neuen ökologischen Radikalität“ im Sinne von „weniger alter Politik“ und des konsequenten Ausrichtens an der Funktionstüchtigkeit der Ökosysteme, die uns tragen.

Mehr von den Autoren zur konsequenten Anwendung dieser neuen ökologischen Radikalitäten in der dritten Nachhaltigkeits-Kolumne im Januar 2010. Lars Schmidt ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung „Umweltpolitik und Ressourcenmanagement“, Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE). Dr. Pierre Ibisch ist Professor an der Fachhochschule Eberswalde, Fachbereich für Wald und Umwelt.

Das Deutsche Institut für Entwicklungspolitik (DIE) zählt weltweit zu den führenden Forschungsinstituten und Think Tanks zu Fragen globaler Entwicklung und internationaler Entwicklungspolitik. Das DIE berät auf der Grundlage unabhängiger Forschung öffentliche Institutionen in Deutschland und weltweit zu aktuellen Fragen der Zusammenarbeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Das einzigartige wissenschaftliche Profil des DIE ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Forschung, Beratung und Ausbildung. Dadurch baut das DIE Brücken zwischen Theorie und Praxis der Entwicklungspolitik.