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Eine Hochschule für alle

25. Januar 2010

Wer nicht sehen, hören oder laufen kann, hat es an deutschen Universitäten schwer. Dennoch wagen sich mehr behinderte Studierende auf den Campus. Die Hochschulen wollen darauf mit besseren Studienbedingungen reagieren.

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Finger tasten über ein Blatt Papier mit Brailleschrift (Foto: dpa)
Bücher und Manuskripte in Brailleschrift können Blinden das Studium erleichtern.Bild: picture-alliance/ ZB

Die meisten Studierenden der Universität Hannover kennen den Begriff "Auflesedienst" nicht, doch für ihre blinden Kommilitonen ist er von zentraler Bedeutung. Hier, im ehemaligen Conti-Hochhaus der juristischen Fakultät, sprechen ihnen Mitarbeiter wichtige Texte aus Büchern oder Manuskripten auf CD. Außerdem können sie die Bücher einscannen und in Brailleschrift ausdrucken lassen. Ein besonderer Drucker macht es möglich.

Dieser Service für blinde Studenten ist keineswegs selbstverständlich an deutschen Hochschulen. Sie habe nur in Hannover, Marburg oder München solche speziellen Dienste und Räume für Blinde kennengelernt, erzählt Studentin Lucia Hoffmann. Ein entscheidender Grund für die Philosophie- und Theologiestudentin, an diesen Orten zu studieren. Dabei sollte es nach dem deutschen Hochschulrahmengesetz für behinderte Studenten möglich sein, überall "barrierefrei" und damit gleichberechtigt zu studieren.

Mehr Studenten mit Handicap

Christiane Schindler, Leiterin der Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (IBS) des Deutschen Studentenwerks (Foto: DSW)
Christiane SchindlerBild: DSW

"Viele Universitäten bemühen sich heute darum, die Studienbedingungen so zu gestalten, dass ein chancengleiches Studium möglich ist", sagt Christiane Schindler, Leiterin der Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung (IBS) des Deutschen Studentenwerks in Berlin. Nicht zuletzt, weil der Anteil der Studierenden mit "gesundheitlicher Schädigung" in den vergangenen zehn Jahren von 15 auf 19 Prozent gestiegen ist. Trotzdem seien diese Studenten in Deutschland noch nicht so willkommen wie in vielen angelsächsischen Ländern, beobachtet Schindler. "Wir sind auf einem guten Weg, aber es bleibt noch viel zu tun."

So fehlen oft nicht nur Aufzüge, stufenlose Eingänge für gehbehinderte, deutlich lesbare Beschilderungen und Servicestellen für sehgeschädigte oder Gebärdendolmetscher für gehörlose Studierende. Es fehlen auch die notwendigen Rahmenbedingungen, damit behinderte Studenten ihr Bachelor- und Masterstudium ohne große Schwierigkeiten bewältigen können. Jeder zweite der stark beeinträchtigten Studierenden unterbricht nach einer Erhebung des Studentenwerks sein Studium zeitweise. 23 Prozent haben nach der Immatrikulation das Fach oder den ursprünglich angestrebten Abschluss gewechselt.

Nachteilsausgleich auch für chronisch Kranke

Vor allem die große Gruppe der chronisch kranken Studierenden mit unsichtbaren Behinderungen wie Rheuma, Atemwegs- oder psychischen Erkrankungen seien durch die Bologna-Reform benachteiligt, sagt die IBS-Leiterin. "Früher hatten die Studierenden mehr Möglichkeiten, das Studium ihren individuellen Zeitbedarfen anzupassen", erzählt Schindler. "Bei den strikten Lernverpflichtungen heute fehlen die Freiräume, die sie oftmals brauchen, um Studium, notwendige Therapien oder Ruhezeiten unter einen Hut zu bringen."

Immer mehr Studierende mit Behinderung oder chronischer Krankheit sind daher auf Nachteilsausgleiche angewiesen. Ein solcher kann zum Beispiel die Verlegung einer Prüfung oder der Ersatz einer schriftlichen durch eine mündliche Leistung sein. Doch Studierende mit nichtsichtbaren Behinderungen haben es oft schwer, diese Nachteilsausgleiche zu erhalten. Christiane Schindler rät ihnen dazu, mit den Behindertenbeauftragten ihrer Universität Kontakt aufzunehmen. Diese kennen das Verfahren und können bei der Antragstellung unterstützen. Auch ausländische Studierende sollten sich vor Beginn des Gastsemesters bei der Hochschule ihrer Wahl nach den Bedingungen vor Ort erkundigen und die notwendigen Hilfen und Unterstützungen vorab organisieren, sagt die IBS-Leiterin.

Neues Bewusstsein für Chancengleichheit

Die Buchstaben D, E, F, G und H, dargestellt in Gebärdensprache (Foto: dpa)
Gebärdendolmetscher sollen hörbehinderte Studierende bei den Auswahltests unterstützen.Bild: dpa

An die deutschen Hochschulen appelliert sie, schon bei den Auswahlverfahren stärker auf Barrierefreiheit zu achten. "Die Gespräche und Tests müssen in gut zugänglichen Räumen stattfinden, und es sollte personelle Hilfen etwa in Gestalt von Gebärdendolmetschern geben." Außerdem dürften behinderte Studierende nicht benachteiligt werden, wenn ihnen Auslands- oder Praktikumserfahrung fehle. "Auch hier müssen die Studieninteressierten die Möglichkeit erhalten, die geforderten Leistungen in einer anderen als der üblichen Form nachweisen zu können."

Dennoch bleibt Schindler optimistisch. In den vergangenen 15 Jahren hat sich in der deutschen Gesellschaft nach ihrer Ansicht ein neues Bewusstsein für Barrierefreiheit und Chancengleichheit entwickelt. "Es ist selbstverständlicher geworden, dass auch junge, behinderte Menschen studieren wollen und können."

Autorin: Sabine Damaschke

Redaktion: Gaby Reucher