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"Ein Verlust an Kompetenz in der Politik"

15. September 2005

Antje Vollmer wurde 1994 als erste Grüne Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Seit 1983 war sie dort fast ununterbrochen Abgeordnete, jetzt tritt die Theologin nicht wieder an. Im Interview zieht sie Bilanz.

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Will künftig politisch etwas kürzer treten: Antje VollmerBild: DPA

DW-WORLD: Warum treten Sie nicht wieder für den Deutschen Bundestag an?

Antje Vollmer: Weil ich das schon lange entschieden hatte. Gerade bei den Grünen seit 1983 Politik gemacht zu haben, das zählt zeitlich noch mehr als bei anderen Parteien. Das ist eine ganze Epoche, da sollte man dann auch selber wissen, dass das ein großes, wichtiges Stück deutscher Geschichte und Politik war. Man muss auch in einer Partei einen Generationenwechsel zulassen und nicht nur darüber reden.

Was kommt für Sie danach?

Ich habe zwar Vorstellungen, aber ich werde sie nicht verraten. Diverse Parteiämter bei den Grünen sind jedenfalls nicht dabei. Ich will einen deutlichen Schnitt machen, aber ich höre nicht auf politisch mitzudiskutieren.

Welche Bilanz ziehen Sie für die rot-grüne Regierung: Was war ein Tiefpunkt, was ist gelungen?

Ich beobachte, dass Bevölkerungen in der Regel eher zu konservativen Absicherungen neigen. Deswegen war Rot-Grün nicht nur für mich eine unglaubliche Chance. Und auch etwas Seltenes. Ich glaube, dass jedenfalls die Grünen die Dinge, für die sie angetreten sind, zu ganz großen Stücken umsetzen konnten: Ausstieg aus der Atomenergie, Verhinderung der Beteiligung am Irak-Krieg, Emanzipation von Minderheiten, Begreifen, dass dieses Land ein Einwanderungsland ist. Die Wirtschaftsweise umstellen auf ökologische Nachhaltigkeit - jedenfalls im Energie- und Agrarbereich. Wenn man heute von einer 'Schwäche' der Grünen sprechen wollte, dann ist sie gerade erfolgsbegründet.

Aber das Wichtigste in dieser ganzen Ära, auch für mich persönlich, waren zwei Ereignisse: Das eine war, dass es - und zwar ganz und gar - von der deutschen Politik abhing, ‚Nein’ zum Irak-Krieg zu sagen. Das wird auf jeden Fall bleiben als etwas, worauf wir stolz sein können. Das andere war für mich das Treffen von Versailles im Januar 2003. Ich selbst habe in Paris studiert und weiß noch, wie kompliziert das deutsch-französische Verhältnis einmal war. Und dann zu erleben, dass die beiden Parlamente zweier Länder, die so eine komplizierte Geschichte miteinander haben, so gut über die Zukunft diskutieren können, das war ein ganz besonderer Tag.

Was ist misslungen?

Die Begriffe für unsere Arbeitsreformen. Das werfe ich auch uns Grünen vor, dass wichtige Arbeitsmarktreformen "Ich-AG" oder "Hartz IV" heißen. Da waren die Grünen sprachlich und motivationsmäßig schon mal viel besser. Die Notwendigkeit von Reformen war unabwendbar, aber man musste sie einordnen in Vorstellungen, wie man trotzdem in einem sozialstaatlichen Zusammengehörigkeitsgefühl gut leben kann.

Was bedauern Sie am meisten?

Am schwierigsten war für mich die Situation, in der Afghanistan-Entscheidung 2001 nicht frei entscheiden zu können, sondern gleichzeitig über die Existenz von Rot-Grün abzustimmen. So sehe ich auch die letzte Vertrauensfrage. Ich habe sehr dagegen protestiert, dass jetzt faktisch ein Parlamentsauflösungsrecht des Kanzlers besteht, auch vom Bundesverfassungsgericht abgesegnet. Das ist für mein grundsätzliches Parlamentarierverständnis ein Rückschritt in der Frage der Freiheit der einzelnen Abgeordneten.

Derzeit ist es tief beunruhigend, dass Rot-Grün in diesen Tagen Wahlkampf machen muss, während die UNO in ihrer schwersten Krise steckt. Ansonsten hätte die Bundesregierung während des UN-Gipfels eingreifen können und vielleicht eine Demontage der Staatengemeinschaft verhindern oder vermindern können.

Lassen Sie den Bundestag mit einem guten Gefühl hinter sich?

Ich bin besorgt. Die Bedeutung von Bundestagsdebatten hat in diesen 20 Jahren, in denen ich im Parlament war, eher abgenommen, auch in der Öffentlichkeit. Die Tendenz zur Mediendemokratie oder zum Politik-Infotainment hat dramatisch zugenommen. Das sehe ich mit ganz großer Sorge. Die Achtung vor dem Kerngeschäft der Politik hat abgenommen. Man hat manchmal den Eindruck, als ob es als Qualifikation gesehen wird, wenn einer keine politische Erfahrung hat, auch für höchste Ämter. Das ist auf Dauer ein Verlust an Kompetenz in der Politik. Die Kompetenz von Politikern ist, verhandeln zu können, Kompromisse schließen zu können, Mehrheiten bilden zu können, schwierige Fragen vorantreiben zu können und nicht beim ersten Gegenwind einzuknicken. Das Ansehen von Politikern hat dramatisch abgenommen - auch, aber nicht nur durch eigene Schuld. Weil der Beruf an Respekt verloren hat, wird man auf Dauer auch eine eher schlechtere Auswahl haben.

Sie gelten als vielleicht letzte rot-grüne Freundin Oskar Lafontaines in Berlin. Wünschen Sie ihm und seiner Linkspartei Erfolg bei der Wahl?

Ich wünsche dem Oskar Lafontaine immer, dass er persönlich glücklich wird. Ich bin ja mit ihm befreundet und nicht mit seiner Partei.

Antje Vollmer ist seit 1983 - mit Unterbrechungen - Bundestagsabgeordnete, zuletzt seit 1994. 1985 trat die Theologin und Publizistin den Grünen bei. Mit Vollmer wurde 1994 zum ersten Mal eine grüne Politikerin Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. Zur Wahl am 18. September tritt sie nicht mehr an.

Das Gespräch führte Klaudia Prevezanos für wahl.tagesschau.de