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Ein PR-Desaster

14. Mai 2008

Peking trifft sich mit Vertretern des Dalai Lama - eine 180-Grad Wende in der chinesischen Tibet-Politik. Haben die Gespräche Aussicht auf Erfolg? Ein Studiogespräch zwischen DW-Experten.

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Proteste während des Fackellaufs in London, Quelle: AP
Der Tibet-Konflikt dominierte über Wochen die BerichterstattungBild: AP

Hat Peking ein echtes Interesse an Gesprächen?

Erning Zhu: Ich habe dieses Treffen für unmöglich gehalten. Die chinesische Führung hat sich sehr in die Enge getrieben gefühlt und konnte eigentlich nur gereizt reagieren. Das Gesprächsangebot zeigt, dass es in der Regierung nicht nur Betonköpfe, sondern auch ein paar sehr helle Köpfe gibt, die auf den Weg der Diplomatie zurückkehren wollen. Die Führung und das chinesische Volk haben ein großes Interesse an ihrem Image in der Welt.

Hao Gui: Bemerkenswert ist, dass man die Tibeter jetzt nicht mehr als Dalai-Clique, sondern als Dalai-Seite bezeichnet. Der Ton ist milder geworden, die Ausgangssituation für Gespräche positiver. Die Tibeter wollen keine Unabhängigkeit, sondern eine weitgehende Autonomie. Das hat die Pekinger Regierung bisher ignoriert. Wenn sie daran festhält, der Dalai Lama sei ein Separatist, werden keine ernsthaften Gespräche zu erwarten sein.

Warum ist Tibet für die chinesische Regierung ein so heikles Problem?

Studio-Diskussion, Quelle: DW
Im Studio: Thomas Kohlmann, Erning Zhu, Philipp Bilsky und Hao Gui (von links).Bild: DW

Kohlmann: Da hängt natürlich mit den Olympischen Spielen zusammen. In diesem Jahr, in dem man sich unter dem Motto "One World, One Dream" der Welt präsentieren will als Großmacht, die zu anderen großen Staaten aufschließen will, hat man ein PR-Desaster am Hals. Auch wenn die Tibeter einen verschwindend geringen Anteil an der chinesischen Bevölkerung ausmachen, sind sie im Fokus der Weltöffentlichkeit. Und das ist in diesem Jubeljahr eine Katastrophe.

Fürchtet die chinesische Regierung, die Kontrolle über Tibet zu verlieren, und könnte das Auswirkungen auf weitere Teile Chinas haben?

Erning Zhu: Die chinesische Regierung steckt tatsächlich in einem Dilemma. Auf der einen Seite wollen sie die Olympischen Spiele erfolgreich ausrichten, um zu zeigen, wie modern das Land mittlerweile ist. Darauf ist das Volk sehr stolz. Auf der anderen Seite ist China ein Land mit 55 ethnischen Minderheiten auf 80 Prozent seines Territoriums. China wollte mit Tibet keinen Präzedenzfall schaffen und gewalttätige Proteste belohnen. Die Regierung steht vor der schwierigen Frage: Soll sie weiterhin mit repressiven Methoden gegen die Menschen vorgehen oder an das bevorstehende olympische Fest denken?

Welche Bedeutung hat der Dalai Lama heute, ist er noch immer einflussreicher als etwa der tibetische Jugendkongress, der sehr viel radikalere Forderungen stellt?

Hao Gui: Ich denke, der Dalai Lama ist im Moment der Schlichter zwischen den extremen Gruppen unter den Tibetern und den Friedliebenden in Tibet selbst. Die Gewalt geht nicht nur von der chinesischen Seite aus, sondern auch von den Tibetern. Vor allem die junge Generation ist noch bereit, zu Waffen, zur Gewalt zu greifen, um für die eigenen Rechte zu kämpfen. Diese Kräfte ruft der Dalai Lama als geistliches Oberhaupt zum Gewaltverzicht auf. Ob das gelingt, ist eine andere Frage. Auf jeden Fall tritt der Dalai Lama als Friedensnobelpreisträger weltweit für Frieden und Gewaltverzicht ein. Das ist auch weltweit anerkannt.

Erning Zhu: Der Dalai Lama ist beim tibetischen Volk in der Tat sehr angesehen. Aber in diesem Volk gibt es auch sehr gewaltsame Tendenzen. Hier sind zwei Organisationen zu nennen: der tibetische Jugendkongress, den es schon seit 1970 gibt, und der neue Verband "Studenten für ein freies Tibet". Diese beiden Bewegungen haben im Februar 2008 zum bewaffneten Kampf für die Unabhängigkeit Tibets aufgerufen. Diese Tendenzen sieht auch der Dalai Lama und merkt vermutlich, dass er nicht die Kontrolle über alles hat.

Hao Gui: Genau deshalb sind die Gespräche mit Vertretern des Dalai Lama zum jetzigen Zeitpunkt sehr wichtig. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass die Pekinger Führung darauf setzt, dass sich das Tibet-Problem mit dem Tod des jetzigen Dalai Lama von selbst erledigt. Das ist nicht der Fall. Man sollte vielmehr die Gunst der Stunde nutzen. Solange der Dalai Lama seinen Einfluss auf die Tibeter - und zwar weltweit - noch hat, muss man Gespräche mit ihm führen und sich in gewissen Fragen einigen.

Die chinesische Presse bezeichnet den Dalai Lama als "Wolf in Mönchskutte". Wie will man dem chinesischen Volk erklären, dass man mit diesem Wolf reden soll?

Kohlmann: Da stecken die PR-Strategen der kommunistischen Partei zweifellos in einem Dilemma. Es ist mittlerweile so viel über die Tibet-Frage berichtet worden, auch in China selbst, dass die Menschen spüren, es gibt Bewegung in dieser Frage - beschleunigt durch die Weltöffentlichkeit. Nur, die Bevölkerung hat überhaupt kein Verständnis dafür, wenn man jetzt eine 180-Grad-Wende vollzieht und plötzlich den 'Spalter des Vaterlands', den 'Aufrührer im indischen Exil' zum Gesprächspartner hochstilisiert. Deshalb wird man wahrscheinlich den Dialog zwar fortsetzen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendwelche politischen Vereinbarungen geben wird oder Zugeständnisse in Richtung Autonomie. Dafür liegen die Wünsche und Forderungen der beiden Seiten doch zu weit auseinander.

Hao Gui: Die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua, die der Propaganda-Abteilung der kommunistischen Partei untersteht, beschimpft den Dalai Lama auch als "Teufel in Menschengestalt". Mit diesen üblen Beschimpfungen eine Ausgangssituation für die angekündigten Gespräche zu schaffen, finde ich nicht sehr intelligent. Andererseits hat der Nationalismus in China Hochkonjunktur. Aus chinesischer Sicht ist Tibet Teil des chinesischen Territoriums. Diesen Nationalismus kann ich im Moment verstehen.

Gab es in China auch Verständnis für die Pro-Tibet-Proteste während des Fackellaufs?

Erning Zhu: Die meisten Menschen in China haben schon Verständnis dafür, dass Tibet ein Problem hat. Aber muss man dafür den Fackellauf stören und die Akteure, die den Lauf stören, in den westlichen Medien als Helden feiern? Seither gibt es in China eine Stimmung, dass westliche Medien eine Einheitsfront gegen das Land und das chinesische Volk gebildet haben. Viele, selbst die schärfsten Regimekritiker sagen: Dieses Mal haben die westlichen Medien ebenso einseitig berichtet wie die chinesischen Medien. Außerdem wurden falsche Bilder, falsche Untertitel in der Berichterstattung eingesetzt. Diese Manipulation wird von den Chinesen als eindeutige Parteinahme angesehen. Die Chinesen haben im Internet ein Portal eingerichtet, um zu dokumentieren, welche verfälschten Sachen in den westlichen Medien gelaufen sind. Das Internet hat die chinesische Öffentlichkeit radikal verwandelt. Jeder westliche Bericht wird jetzt noch mehr auf den Prüfstand gestellt. Deshalb müssen wir als Medienmacher im Westen sehr genau darauf achten, dass solche Fehler nicht passieren.

Hat sich die westliche Berichterstattung zu sehr auf Informationen von der tibetischen Exilregierung gestützt?

Kohlmann: Gezwungenermaßen, denn es gab keine Korrespondenten vor Ort mehr, es gab nur sehr wenige Bilder, die in den Westen drangen. Die Entscheidung der chinesischen Führung, die westlichen Korrespondenten aus Tibet herauszuholen, hat das Ganze beschleunigt. Es geht ja nicht um Bilder, die man grob fahrlässig verwendet hat, sondern aus dieser Not hat man pro-tibetische Demonstranten aus Kathmandu gezeigt mit nepalesischer Polizei. Das hätte man kennzeichnen sollen, aber von einer bewussten Fälschung zu sprechen, das halte ich für übertrieben.

Hao Gui: Selbst mit falschen Bildern ändert sich am Nachrichtenkern nichts. Ich möchte betonen: Medienunternehmen im Westen sind keine politischen Institutionen und unterliegen keinen politischen Anweisungen, sondern berichten das, was aus ihrer Sicht glaubhaft, neutral und objektiv ist - genau wie wir es hier bei der Deutschen Welle tun.

Kohlmann: Das möchte ich unterstreichen. Es gibt keine zentral gelenkten Medien im Westen, nicht in Deutschland, nicht in den USA. Es gibt vielleicht so etwas wie einen Herdentrieb: Ist ein Thema entdeckt, wird es von einem Großteil der Medien mehr oder weniger im selben Tenor aufbereitet.

Sind sich westliche Journalisten dessen bewusst?

Kohlmann: Wenn sich Ereignisse, wie im März in Lhasa, überschlagen, ist natürlich keine Zeit für Selbstreflexionen. Da hat man nur eins im Blick: Die neueste Entwicklung darzustellen, möglichst Informationen aus der Gegend zu bekommen. Wir waren selbst in dieser Situation und haben versucht, Kollegen in Tibet zu erreichen, um Interviews zu führen. Aber irgendwann saß auch der letzte im Zug nach Peking.

Welche Lehren sollte die Politik in Deutschland und Europa aus den Ereignissen ziehen?

Hao Gui: Die deutsche Außenpolitik zeigt ja durchaus Verständnis dafür, dass China gerade jetzt für Ruhe im Land sorgt. Und die Bundesregierung unterstützt die chinesische Regierung, wie ich das wahrgenommen habe, im Bemühen, in Tibet wieder Ordnung aufzubauen. Und man ist sehr vorsichtig, wenn es um die Olympischen Spiele geht. Die Bundesregierung hat auch immer gesagt, dass Tibet Teil des chinesischen Territoriums sei. Dass die Bundeskanzlerin den Dalai Lama offiziell empfangen hat, war eine Anerkennung seiner Friedensbemühungen.

Erning Zhu: Den Dalai Lama im Kanzleramt zu empfangen, das allein hilft noch keinem. Das führt nur zu einer Verhärtung der chinesischen Innen- und Außenpolitik. Wenn wir tatsächlich dem tibetischen Volk helfen wollen, dann sollten wir wissen: Dieses Volk ist zutiefst religiös und im Lamaismus verwurzelt, einer buddhistischen Strömung. Lamaismus ist an Figuren orientiert - der Dalai Lama momentan die wichtigste. Deshalb sollte er so schnell wie möglich zu seinem Volk - einem Volk ohne Hirten - zurückkehren können.

Hao Gui: Entscheidend ist, dass wir die Tibeter selbst fragen, wie sie ihre Heimat, ihr politisches und wirtschaftliches Leben gestalten wollen und welche Rolle Religion spielen soll. Die politische Realität in Tibet sieht so aus: Der Parteisekretär kommt aus Peking, und der hat in der Regel das letzte Wort. Was in Tibet passiert, entscheidet ein Fremder. Das werden sich die Tibeter nicht gefallen lassen.

In weniger als drei Monaten beginnen die Olympischen Spiele. Wie werden sich die Beziehungen Chinas zu Deutschland und Europa bis dahin entwickeln?

Kohlmann: Wenn es weiter Berichte gibt über Unruhen, in Tibet oder auch in Nachbarprovinzen, wird uns dieses Thema erhalten bleiben. Die Lehre ist doch: Wenn ich ein Land gewaltsam in mein Territorium integriere, auch wenn das über 50 Jahre zurückliegt, wird dieses Problem immer wieder auf der Bühne erscheinen. Von dieser Erkenntnis sind die Chinesen noch weit entfernt. Die Tibeter sind verwurzelt in ihrer Jahrtausende alten Religion, in der Person des Dalai Lama finden sie sich wieder. Dem kann man allein mit glitzernden Fassaden und einem Hyperkapitalismus unter Führung der kommunistischen Partei auf Dauer nichts entgegensetzen.

Auszüge aus einem Studiogespräch. Teilnehmer waren: Erning Zhu, Leiterin von DW-WORLD.DE/Chinesisch, Hao Gui, Chef vom Dienst der Asienprogramme von DW-RADIO, und der für den Fokus Asien zuständige Hörfunkredakteur Thomas Kohlmann. Moderator: Philipp Bilsky.