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Regine Stachelhaus

14. Dezember 2009

Unicef Deutschland hat eine rabenschwarze Zeit hinter sich. Hewlett Packard-Managerin Regine Stachelhaus ließ ihren Job sausen, um bei der kriselnden Organisation anzufangen. Sie ist am 1. Januar 2010 ein Jahr im Amt.

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Portrait Regine Stachelhaus mit Unicef-Logo (Foto: DW)
Bild: DW/ Sandra Petersmann

Vor allem Anfang 2008 sorgte die deutsche Sektion des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen für Negativschlagzeilen: Vorstandsvorsitzende und Geschäftsführer lieferten sich schon seit längerem eine öffentliche Schlammschlacht. Die Medien berichteten über üppige Provisionszahlungen für professionelle Spendensammler, und die Staatsanwaltschaft Köln ermittelte für kurze Zeit sogar wegen der mutmaßlichen Veruntreuung von Spendengeldern. Obwohl die Ermittlungen ohne Befund eingestellt wurden, verlor die Organisation ihr DZI-Spendensiegel, und die Spenden brachen drastisch ein. Vorstand und Geschäftsführung traten zurück, und Unicef Deutschland begann einen radikalen Neuanfang, um das Horrorjahr 2008 zu beenden.

Die Personalberatung Egon Zehnder suchte im Auftrag des neuen Vorstands um den Unternehmer Jürgen Heraeus nach einer geeigneten Persönlichkeit mit Reputation für die Geschäftsführung. Es gab mehr als 350 Interessenten. Die Wahl fiel einstimmig auf Regine Stachelhaus, 54 Jahre alt und eine Top-Managerin des Computerherstellers Hewlett Packard. Sie ist mit einem Musiker verheiratet und Mutter eines erwachsenen Sohnes. DW-WORLD.DE hat mit ihr Bilanz nach dem ersten Jahr im Amt gezogen.

DW-WORLD.DE: Frau Stachelhaus, Sie haben direkt nach Ihrem Wechsel von Hewlett Packard Deutschland zu Unicef Deutschland gesagt, dass die Geschäftsführung bei Unicef für Sie ein "Traumjob" ist. Sie haben auch von "persönlicher Genugtuung" gesprochen. Warum?

Regine Stachelhaus: Es sind einfach ganz andere Inhalte. In einem Industrieunternehmen geht es um Umsatz und Profitoptimierung. Da kann man sehr viel lernen, auch menschlich, und das macht auch sehr viel Spaß. Aber die Inhalte bei Unicef sind etwas ganz anderes. Für mich ist dieses erste Jahr bei Unicef gefühlte drei Jahre lang gewesen. Die Erfahrungen sind so intensiv und so stark - vor allem, wenn man in den Projektländern unterwegs ist und die Menschen, die Kinder, trifft, für die man arbeitet. Das ist mit nichts zu vergleichen.

von Kindern gemaltes Unicef-Logo (Foto: DW)
KinderpostBild: DW/ Sandra Petersmann

Ihr Wechsel fand kurz nach dem großen Knall statt. Die Vertrauenskrise war immer noch riesig. Sie haben trotzdem Ihren Top-Job bei HP aufgegeben, um zu Unicef zu wechseln. Warum haben Sie sich diesen Scherbenhaufen angetan?

Ich habe das als meine Herausforderung gesehen. Ich war immer von Unicef als Organisation und den Inhalten der Arbeit überzeugt und begeistert. Unicef hat besondere Stärken. Durch die Zugehörigkeit zu den Vereinten Nationen ist Unicef in der Lage, Katastrophenhilfe im Notfall und nachhaltige Entwicklungsarbeit miteinander zu verknüpfen. Unicef arbeitet daran, die Rahmenbedingungen für Kinder zu verbessern. Da geht es zum Beispiel auch um Gesetze wie die Abschaffung der Todesstrafe für Kinder im Iran. Für mich hat Unicef eine unglaubliche Strahlkraft. Die Organisation ist oft die letzte Brücke in einem eskalierenden Konflikt.

Die Probleme, die ich bei Unicef Deutschland gesehen habe, schienen mir überwindbar. Wenn man Bilanz zieht und fragt, was eigentlich passiert war, kann man nur sagen: Es war eine Führungskrise zwischen der damaligen Vorsitzenden (Heide Simonis, d. Red.) und dem damaligen Geschäftsführer (Dietrich Garlichs, d. Red.). Diese wurde in den Medien zum Schaden der Organisation offen ausgetragen. Es wurde sichtbar, dass Unicef Deutschland seine Transparenz verbessern musste. Wichtig war, innerhalb der Organisation klarere Strukturen zu schaffen, so dass Verantwortlichkeiten eindeutig zugewiesen werden können. Jetzt gibt es einen neuen Vorstand, der auch die Geschäftsführung, also mich, kontrolliert. Ich begrüße das sehr. Das gab es vorher nicht.

Die große Lehre aus der Unicef-Krise ist also mehr Transparenz?

Das ist für uns absolut entscheidend. Wir brauchen die Nähe und den Dialog zu unseren Spendern. Wir überlegen auch, wie wir das mit Hilfe der neuen Medien noch verbessern und ausbauen können. Ich suche so oft wie möglich und ganz gezielt das Gespräch mit unseren 8000 Ehrenamtlern. Dieser Austausch ist wichtig, um uns und unsere Arbeit, unsere Ziele und Methoden, ständig zu erläutern und zu überprüfen. Unser neuer Geschäftsbericht, der auch online steht, gibt sehr offen und detailliert Auskunft über unsere Arbeit und unsere Zahlen. Die Menschen sollen wissen, wofür wir das uns anvertraute Geld ausgeben. Die Spender müssen und sollen wissen, wie viel Geld wir für die Verwaltung und für Werbung ausgeben und wie viel Geld in welche Projekte geht. Diese Klarheit muss sein.

Lesen Sie im zweiten Teil, welche Rolle das Geld und der Konkurrenzkampf beim Helfen spielen.

Die Managerin des Jahres 2005 wechselt aus der freien Wirtschaft zu Unicef - würden Sie sagen, dass das eine typisch weibliche Karriere-Entscheidung ist?

Regine Stachelhaus in ihrem Büro in der Kölner Unicef-Deutschland-Zentrale (Foto: DW)
Bild: DW/ Sandra Petersmann

Viele haben gesagt, dass das eine mutige Entscheidung war. Ich würde nicht von typisch weiblich sprechen. Ich hatte einfach diese Idee im Kopf. Ich habe das Angebot als Chance für mich begriffen, und wenn man so eine Chance bekommt, dann muss man zugreifen. Sonst fragt man sich ein Leben lang mit Reue, warum man das nicht gemacht hat. Natürlich bedeutete dieser Schritt auch Verzicht. Aber bei dieser Entscheidung ging es mir um konkrete Inhalte und nicht um eine persönliche Karriere-Entwicklung. Ich hatte eine tolle Position bei Hewlett Packard. Aber ich habe mir damals zusammen mit meiner Familie die große Frage gestellt, welchen Stellenwert Geld für uns hat. Und wir sind zu dem Schluss gekommen, dass alles, was uns besonders wichtig ist, woanders liegt.

Geld ist aber ein wichtiges Thema für Unicef. Ohne Geld kann Unicef nicht arbeiten. Unicef hat im Krisenjahr 2008 das Spendensiegel vom "Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen" (DZI) verloren und einen dramatischen Einbruch bei den Spenden erlebt. Das Spendenvolumen sank von knapp 95 Millionen Euro im Jahr 2007 auf 72,5 Millionen im Jahr 2008. Das ist ein dickes Minus von rund 22 Millionen. Wo steht Unicef Deutschland heute? Noch haben Sie das Spendensiegel ja nicht zurück.

Das Spendensiegel können wir auf Grund der Satzung des DZI erst im Januar 2010 neu beantragen. Aber wir gehen fest davon aus, dass wir längst alle Vorraussetzungen erfüllen. Wir haben sehr schnell und sehr radikal die Dinge verändert. Deshalb hoffen wir, dass wir es schnell zurückkriegen. Ich glaube wirklich, dass wir es schon geschafft haben, das Vertrauen der Spender zurück zu gewinnen. Unser Spendenniveau 2009 bewegt sich auf der Ebene des Vorjahres. Damit können wir in diesen Krisenzeiten wirklich sehr zufrieden sein. Wir freuen uns sehr darüber, dass viele unsere Fördermitglieder, die jeden Monat spenden, ihren Betrag in der Krise sogar erhöht haben. Das ist ein großer Vertrauensbeweis.

Wie sehr beeinflusst die Wirtschafts- und Finanzkrise Ihre Arbeit?

Wir spüren das auf mehreren Ebenen. Wir bekommen manchmal ausführliche Briefe von Fördermitgliedern, die uns sehr emotional berichten, dass sie ihren Förderauftrag einstellen müssen, weil sie arbeitslos geworden sind. Wir erleben in unserer Arbeit in Deutschland, dass mehr und mehr Kinder auch hierzulande ins Abseits geraten, weil ihre Bildung und manchmal sogar ihre Grundversorgung nicht gesichert sind. Auch in Deutschland entscheiden sehr stark der Wohlstand und der Bildungsgrad einer Familie über die Zukunftschancen des Kindes. Wer arm ist, wird oft schon als Kind abgehängt und hat keine Chance. Wir sehen die Folgen der Krise aber am stärksten und am härtesten in den Entwicklungsländern. Oft gibt es keinerlei soziale Sicherung. Die Finanzprobleme der Regierungen schlagen unmittelbar auf die Grundversorgung der Kinder durch. Ihre Ernährung und ihre medizinische Versorgung sind nicht gesichert. Unicef hat bereits im vergangenen Jahr 45 Länder identifiziert, in denen es verstärkt darum geht, diese Grundversorgung zu sichern. Es darf nicht sein, dass Kinder aus den Schulen genommen werden, weil das Schulgeld fehlt oder weil die Kinder arbeiten müssen, damit die Familie überleben kann.

Junge in Peru hackt Lehm aus dem Boden, um Ziegel zu brennen (Foto: dpa)
Kinderarbeit in PeruBild: dpa

Muss eine Hilfsorganisation gerade in den Zeiten der Krise wie ein Unternehmen geführt werden, um erfolgreich zu sein?

Ich sehe viele Parallelen, deshalb würde ich das mit einem klaren ja beantworten. Aber die Industrie kann auch eine Menge von einer Organisation wie Unicef lernen, was die Nachhaltigkeit von Entscheidungen betrifft und was die ethischen Grundsätze angeht, an denen alle Entscheidungen gemessen werden. Aber umgekehrt gilt das auch. Eine große Organisation wie Unicef, die Verantwortung für ein großes Spendenaufkommen hat, muss sehr effizient arbeiten und sehr genau planen. Wir haben gerade unsere Pläne für das nächste Jahr aufgestellt. Wir haben das klassisch gemacht wie bei einem Planungsprozess in der Industrie. Wo liegen unsere Stärken? Was können wir am besten kommunizieren? Was ist das wichtigste? Woran messen wir uns?

Braucht eine Organisation wie Unicef Deutschland professionelle Spendensammler? Das Thema Provisionen für Spendensammler haben Sie seit der Führungskrise ja erst einmal auf Eis gelegt.

Wie alle anderen großen Organisationen auch arbeiten wir mit professionellen Methoden des Fundraisings. Das Thema Provisionen ist nur ein Teilaspekt davon. Bei Unicef Deutschland hat es das in Einzelfällen gegeben, um finanzielle Risiken zu minimieren. Der Fehler war, dass man das nicht genügend kommuniziert hat. Im angelsächsischen Raum sind Provisionen nichts Ungewöhnliches. Wir erstellen gerade umfassende ethische Richtlinien für unsere Arbeit. Unser Vorstand hat sich vorbehalten, dass wir auch dieses Thema dabei behandeln. Für uns ist ganz wichtig, dass wir die Menschen überzeugen und begeistern wollen. Wir wollen sie nicht bedrängen, wie das manche mit Drückerkolonnen tun. So etwas hat Unicef immer abgelehnt, und das wird auch so bleiben.

Der Spendenmarkt ist heiß umkämpft. Der Konkurrenzkampf ist groß. Wie gehen Sie damit um?

Ich finde es absolut nicht akzeptabel, wenn man versucht, sich gegenseitig aus dem Markt zu drängen. Ich kenne das ja sehr gut. Ich komme aus einem harten Wettbewerb in der IT, und ich lehne das hier im Bereich sozialer Organisationen komplett ab. Hier gibt es gemeinsame Anliegen, es geht um Zusammenarbeit und darum, sich die Aufgaben schnell und effizient aufzuteilen. Die Organisationen machen sich dadurch gegenseitig stärker. Ich wünsche mir, dass wir das Spendenaufkommen insgesamt in Deutschland gemeinsam erhöhen. Im Moment spenden etwa 40 Prozent der Bevölkerung. Dieser Anteil kann sicher noch gesteigert werden, so dass noch mehr Menschen Verantwortung über sich selber hinaus übernehmen und anderen Menschen helfen wollen.

Lesen Sie im letzten Teil, wo Regine Stachelhaus im ersten Jahr bei Unicef an Grenzen gestoßen ist.

Kinder bei der Essenausgabe einer Hilfsorganisation auf den Philippinen (Foto: dpa)
Hunger auf den PhilippinenBild: picture-alliance/ dpa

Haben Ihre ersten Reisen für Unicef Ihr Weltbild verändert?

Ja, ich habe erfahren, dass das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern in einem Land mit hoher Kindersterblichkeit ganz anders ist als bei uns im reichen Westen. Wenn Sie in ein Land reisen, in dem jedes vierte Kind vor seinem 5. Lebensjahr stirbt, dann erleben Sie, dass Kinder oft wie kleine Erwachsene behandelt werden, die funktionieren müssen. Diese Kinder müssen wir schützen - durch Bildung.

Ich habe über Ihre Angola-Reise gelesen. Welche Bilder bleiben im Kopf?

Ich erinnere mich, dass ich die letzten zwei, drei Nächte überhaupt nicht mehr geschlafen habe. Was man tagsüber sieht und erlebt, zieht in der Nacht an den Augen vorbei. Irgendwann kommt dann der Punkt, wo man sich hilflos fühlt und denkt, dass man auch als große Organisation einfach nicht alle Kinder erreichen kann. Wir haben dort in den Slums der Hauptstadt Luanda Kinder getroffen, die nirgendwo registriert waren. Das sind Kinder, die missbraucht worden sind. Das sind Mädchen, die mit brutalster Gewalt konfrontiert worden sind. Aber wir haben auf dieser Reise auch sehr ermutigende Projekte gesehen. Wir haben zum Beispiel Schulen im Hinterland besucht, die schon seit drei, vier Jahren von Unicef unterstützt werden. Die Hälfte der Schüler waren Mädchen, die sonst eine große Ausnahme in den Klassenräumen sind. Ich habe die Kinder gefragt, was ihr Lieblingsfach sei. Die waren über meine Frage sehr überrascht und haben gerufen: "Alles natürlich!" Das sind Momente, die bleiben für immer. Das gibt einem die Kraft und die Motivation, immer weiterzukämpfen.

Kinder in Angola lesen Aufklärungsbroschüren über tödliche Landminen (Foto: Handicap International)
Kinder in Angola lesen über tödliche LandminenBild: C. Badonnel/Handicap International

Wir Erwachsenen sagen immer, dass Kinder unsere Zukunft sind. Warum spielen sie dann in der nationalen und internationalen Politik so eine untergeordnete Rolle?

Wir müssen uns alle fragen, warum wir unsere Kinder so wenig hören. Das gilt auch für Deutschland. Nehmen wir den nationalen Vorbehalt gegen die UN-Kinderrechtskonvention. Hierzulande können Flüchtlingskinder mit 16 Jahren immer noch in Abschiebehaft genommen oder nach der Ankunft am Flughafen interniert werden. Sie bekommen nicht die gleiche medizinische Versorgung wie ein deutsches Kind. Für sie gilt auch nicht in allen Bundesländern die allgemeine Schulpflicht. Wir wollen, dass die Kinder überall gleich behandelt werden und die gleichen Chancen bekommen, auch in Deutschland. Wir kämpfen deshalb dafür, dass die Kinderrechte in Deutschland ins Grundgesetz kommen. Wenn ich an die aktuellen Milliardenverschuldungen denke, dann wäre es sicher nicht schlecht gewesen, wenn ein Anwalt der Kinder mit am Tisch gesessen hätte, um für ihre Zukunft zu kämpfen.

Interview: Sandra Petersmann

Redaktion: Kay-Alexander Scholz