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Ein Dorf in der Stadt

25. März 2002

Wohnen und arbeiten auf Brücken, im Mittelalter nicht unüblich – heutzutage eine Rarität. Mit einem solchen Kleinod kann Thüringens Hauptstadt Erfurt aufwarten.

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Ägidienkirche und Krämerbrücke in ErfurtBild: Illuscope

Die Krämerbrücke ist die einzige vollständig bebaute und bewohnte Brücke nördlich der Alpen, 123 Meter lang und außerdem das älteste Bauwerk Erfurts. Sie wurde 1325 gebaut, nachdem mehrere Holzbrücken an dieser Stelle Bränden zum Opfer gefallen waren. Die Brücke ruht auf sechs steinernen Brückenbögen, unter denen die Gera hindurchfließt. Über sie führte der im Mittelalter wichtigste Handelsweg von Frankreich nach Russland, die Via Regia. Die dicht zusammengedrängten alten Steinhäuser auf der Brücke verleihen ihr einen ganz eigenen Charakter. Die Häuser beherbergten kleine Krämerläden, in denen Gewürze, Silberschmuck, Stoffe und vieles mehr verkauft wurden, sie gaben der Brücke ihren Namen.

Gemeinschaft auf der Brücke

Nach Osten hin, in Richtung Weimar, begrenzt die Brücke die zur gleichen Zeit gebaute Ägidienkirche. Ihr Hauptschiff befindet sich nicht im Erdgeschoß, sondern im ersten Stockwerk, denn darunter zogen die Pferdefuhrwerke durch einen Torbogen über die Brücke. Seit 28 Jahren wohnt und arbeitet im Haus Nr. 22 die Holzbildhauerin Gabriele Leuschner. Als zu DDR-Zeiten Mitte der siebziger Jahre versucht wurde, Kunsthandwerker und Künstler auf die Brücke zu holen, stellte sie einen Antrag und hatte Erfolg. Für sie ging damit ein Traum in Erfüllung. "Dieses Fachwerkhaus, dieses kleine schmale Haus auf vier, fünf Etagen bis zum Boden, das hat mich schon als Jugendliche fasziniert, wenn ich hier vorbeiging, und das war schon mein Traum," erläutert Gabriele Leuschner. "Das hat sich hier auch schön entwickelt, weil hier mittlerweile doch einige Kunsthandwerker und Künstler wohnen - diese Gemeinschaft hier möchte ich nicht missen. Das ist wie ein kleines Dorf mitten in der Stadt."

Ein Dorf in der Stadt – und zwar ein jahrhundertealtes - dafür war sie auch bereit, die Enge des Hauses in Kauf zu nehmen. Für sie, ihren Mann und die beiden hier geborenen Kinder ist der Wohnraum nicht gerade üppig, sie leben auf 86 Quadratmetern, auf zwei, drei Etagen verteilt, und davon ist ein Viertel Treppenhaus.

Eine Brücke mit Geschichte

Ihre Freude hat in all den Jahren nicht nachgelassen, sagt Gabriele Leuschner, jeden Tag, wenn sie aus dem Tor unter der Ägidienkirche auf die Brücke tritt, freut sie sich von neuem. Dieser Blick beeindruckt jährlich Zehntausende von Besuchern so, daß sie ihn mit der Kamera festzuhalten versuchen. Gleichzeitig kann, wer mit wachen Sinnen über die Brücke geht, sich kaum ihrer Geschichtsbeladenheit entziehen: Luther, Pachelbel, Goethe, Schiller, Napoleon, später der junge Bismarck und August Bebel beim Erfurter SPD-Kongreß sind nur einige wenige der vielen, die auf dieser Brücke flanierten.

Noch etwas länger als Gabriele Leuschner lebt Egon Zimpel schon auf der Brücke. Er malt abstrakte Bilder. Als er vor fast 30 Jahren hier einzog, wohnten hier Menschen, die noch das Brückenleben der dreißiger und vierziger Jahre persönlich miterlebt hatten. Damals erfuhr er zum Beispiel, daß die Zeiten, wo es auf der Brücke noch keine Kanalisation hatte, noch gar nicht lange zurücklagen. "An den Häusern sind kleine Schuppen gewesen und da konnte man zur Toilette gehen , da ging das im freien Fall in die Gera rein."

Gefahr drohte nach der Wende

In DDR-Zeiten gehörten Baumaterialien zu den Dingen, die knapp waren und an die nur mit großen Schwierigkeiten heranzukommen war. Die Verantwortlichen in Erfurt gaben sich aber viel Mühe, die Häuser auf der Brücke einigermaßen instandzuhalten. Hilfreich war dabei, daß damals auch das städtische Amt für Denkmalschutz seinen Sitz auf der Brücke hatte.

Krämerbrücke in Erfurt
Krämerbrücke in ErfurtBild: Illuscope

Auf der Brücke ist ein außergewöhnlich harmonisches Miteinander von Kunsthandwerkern, Künstlern und Händlern entstanden und das hat seine Gründe: Kurz nach der Wende drohten Gefahren, die Brückenbewohner schlossen sich deshalb zusammen. Sie hatten festgestellt, daß immer mehr Kaufinteressenten aus dem Westen begehrliche Blicke auf die Brückenhäuser warfen. Es dauerte dann zwar noch bis 1996, bis die Gründung der Stiftung Krämerbrücke tatsächlich unter Dach und Fach war, weil keiner der Beteiligten Erfahrungen mit privaten Stiftungen hatte, aber der Verkauf der Brückenhäuser kam schon 1991 mit dem Bekanntgeben der Stiftungsabsicht zum Stillstand.

Ängste sind Zuversicht gewichen

Die Stiftung Krämerbrücke hat sichtlich dazu beigetragen, daß in den vergangenen Jahren mehrere Häuser behutsam restauriert wurden. Weil die Brückenbewohner aufgrund der Stiftungssatzung einbezogen werden, haben sie die Gestaltung von Veränderungen beeinflussen können. Die früheren Befürchtungen, sie könnten von der Brücke vertrieben, haben sich aufgelöst, es ist im Gegenteil ein harmonisches neues Miteinander von Kunsthandwerkern, Künstlern und Händlern entstanden.

Das Kulturdenkmal Krämerbrücke ist täglich geöffnet, genauso wie das Erfurter Krämerbrückenmuseum im Haus Nummer 20/21 von 10-18 Uhr. Rolf-Henning Hintze/(pg)