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Ein authentisches Ekel

Jens Thurau9. Mai 2003

Das Verhältnis zu den USA, Erhöhung der Tabaksteuer, Unmut über Polen: Alles wichtige Themen in Berlin in der vergangenen Woche, viel Arbeit für die Journalisten. Aber das wirkliche Top-Thema war ein gänzlich anderes.

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Das größte Gedränge, die schweißtreibendste Hektik gab es am Donnerstag (08.05.) im Kulturkaufhaus Dussmann an der Friedrichstrasse. Ein Bestseller wurde vorgestellt, Startauflage 250.000 Exemplare. Der Autor war gekommen, um das Buch zu präsentieren, und die Fotografen scharten sich um ihn: Stefan Effenberg hat uns alle beglückt mit seiner Autobiografie "Ich hab‘s allen gezeigt".

Über Buch und Autor ist das Wichtigste schnell berichtet: Ex-Fußball-Nationalspieler Effenberg war auf dem Feld und außerhalb ein Rüpel, seine Karriere neigt sich dem Ende zu. Er hat einem anderen Ex-Nationalspieler, Thomas Strunz, die Frau ausgespannt und muss sich selbst erst noch scheiden lassen, damit das neu Glück mit Claudia perfekt ist.

Beleidigtes Bildungsbürgertum

Kann man alles im Buch nachlesen. Die Bild-Zeitung beschäftigt sich seit Tagen mit nichts anderem, schließlich hat der Springer-Verlag die hocherotischen Fotos von Effenberg und Frau Strunz exklusiv und vorab. Damit könnte die Geschichte schon umschrieben sein, aber mindestens so interessant ist, wie das belesene Bildungsbürgertum reagiert, nämlich irgendwie beleidigt.

"Balla, Balla" überschreibt etwa die "Welt" einen Verriss von Buch und Person, und der "Tagesspiegel" stellt sich die Frage, warum Effenbergs Buch wohl erfolgreicher sein wird als das von Jürgen W. Möllemann, der in seinem jüngst veröffentlichten Buch auch mit allen Wegbegleitern abrechnet. Antwort: Effenberg ist das authentischere Ekel, Möllemann will Anerkennung, Effenberg will Geld.

Dichter, Denker und Geschmacksgrenzen

Stimmt so ungefähr. Auf der Pressekonferenz im Buchkaufhaus macht der blonde Mittelfeldstar keinen Hehl daraus. Wem das Buch nicht gefällt, der kann es weglegen, ihm ist das egal. Sein schluderiger Umgang mit der deutschen Sprache? Na ja, so redet er halt. Warum erwähnt er, dass er für die Todesstrafe ist? Warum nicht, wir leben doch wohl in der Demokratie. Ende der Debatte.

Zu dieser Pressekonferenz sind auch viele Kollegen der politischen Kommentatorenzunft erschienen. Alle sind ein bisschen beißwütig Effenberg gegenüber. Das Volk der Dichter und Denker duldet es nicht, wenn einer aus dem Volk alle Geschmacksgrenzen unterschreitet. Was ist nur aus uns geworden? Die peinlichen Enthüllungen von Pop-Star Dieter Bohlen findet weit mehr Interesse als jede Regierungserklärung, Effenbergs Buch ist nur die Fortsetzung.

Politik und Boulevard

Effenbergs großes Plus ist seine Gradlinigkeit, sein Verzicht auf jede Rechtfertigung. Ich bin echt unangenehm, sagt er uns, aber ich stehe dazu. Und: Ist nicht auch der Kanzler manchmal unangenehm, ist Möllemann nicht immer machthungrig? Ja, schon, aber sie wollen ihr Verhalten erklären und dennoch geliebt werden. Kommt nicht so gut an.

Gerhard Schröder nimmt sich daran ein Beispiel: Seine Agenda 2010 zieht er durch, ohne Rücksicht auf Gegenstimmen aus der SPD. Für vornehme politische Kultur ist jetzt keine Zeit. Basta. Nur sinken die Umfragewerte für den Regierungschef immer weiter. Na ja, vielleicht sind Politik und Boulevard doch noch zwei verschiedene Dinge ...