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Politik

e-Estonia - Europas digitaler Vorreiter

Barbara Wesel
28. September 2017

Estland sieht sich als Vorreiter in Sachen digitaler Wirtschaft und Verwaltung in Europa. In Tallinn will die Regierung bei einem informellen Gipfel die EU-Kollegen von einer gemeinsamen digitalen Zukunft überzeugen.

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Estland EU-Digitalgipfel in Tallinn
Bild: DW/B. Wesel

Jörgen, Liina und ihre Mitschüler lernen gerade am Laptop, einem kleinen Lego-Roboter das Laufen beizubringen. Der Lehrer zeigt am Bildschirm vorne, welche Befehle für die einzelnen Funktionen zuständig sind. An einem Tisch haben die 8-Jährigen es schon geschafft, ihren Roboter zum Drehen zu bringen. Die nächste Gruppe kämpft noch damit, ihn überhaupt in Bewegung zu setzen. Ein Klassenzimmer mit kistenweise Lego und Robotiks-Antrieben ist Basis für die "Realkool", eine Schule im Zentrum Tallinns, um die Jüngsten spielerisch in digitalen Techniken auszubilden.

Estland EU-Digitalgipfel in Tallinn
Schulfach Robotics in einer estnischen SchuleBild: DW/B. Wesel

Fit für die digitale Zukunft

Das Hauptziel der estnischen Regierung, die in den letzten fünfzehn Jahren ihren Staat und ihre Wirtschaft zum IT-Vorreiter in Europa gemacht hat, ist, die Bürger fit zu machen für die digitale Zukunft. Das fängt bei den Kleinen in der Grundschule an, erzählt Lehrerin Birgy Lorenz, die auch im Verband der IT-Lehrer engagiert ist. Schon in der 2. Klasse lernen sie die Grundzüge von Robotics, weil das Spaß macht und sie schnelle Erfolge haben. Und schon seit dem Kindergarten wissen sie, wie wichtig Cyber-Sicherheit ist, dass man zum Beispiel niemandem sein Passwort geben darf.

In späteren Schuljahren lernen die Kinder dann programmieren und die komplexeren, mathematisch-theoretischen Grundlagen. "Unser Ziel ist, dass unsere Schüler die Besten sind, wenn sie an die Uni kommen", sagt Birgy. Und in welcher Sprache redet Jörgen mit seinem Roboter? "In English, of course", die Mehrsprachigkeit wird wie nebenbei mitgelernt.

Die total digitale Verwaltung

Ein Bürger in Estland kann alle Verwaltungsaufgaben digital erledigen. "Mein Führerschein war abgelaufen, und ich saß auf dem Flughafen in London und konnte mit dem Smart-Phone einen neuen beantragen", erzählt Anna Piperal, Sprecherin der Digitalbehörde der estnischen Regierung. "Jeder Este kann alles online machen, seine Steuererklärung wird automatisch verarbeitet, das digitale Rezept kommt vom Arzt, die Kinder werden in der Schule angemeldet oder Sozialhilfe beantragt." Nur zum Heiraten und zum Wohnungskauf müsse man noch ein Amt aufsuchen.

Der Schlüssel liegt in der digitalen Bürgerkarte, mit der jeder Este vom Laptop oder Smartphone aus Zugang zu sämtlichen öffentlichen Diensten erhält, von der Krankenakte bis zum Grundbuch. Man kann damit auch öffentliche Verkehrsmittel nutzen und soll künftig alle staatlichen Leistungen ohne Antrag automatisch erhalten. 99% der staatlichen Verwaltung in Estland funktionieren online, und das spart für den Staat 2 Prozent des Sozialprodukts, erklärt Anna Piperal.

Estland EU-Digitalgipfel in Tallinn
Estlands digitale Bürgerkarte, ähnlich auch für Bürger anderer EU-Staaten zu habenBild: DW/B. Wesel

Ältere Bürger wurden jahrelang geschult, der jüngere Teil der Bevölkerung aber wolle den digitalen Staat längst nicht mehr missen. Und die Regierung wirbt für Geschäftsideen wie die e-residency: Jeder EU-Bürger kann auch von außerhalb Estlands mit ein paar Mausklicks eine Firma eröffnen. So gebe es etwa einen ukrainischen Künstler, der seine Werke über eine estnische Plattform verkauft. Allerdings: Jede digitale Transaktion in Estland wird unmittelbar besteuert, der Staat verdient daran. 

Digitaler Zugang für alle - die fünfte Freiheit der EU

Premierminister Jüri Rätas will seine EU-Kollegen auf die Reise in die digitale Zukunft mitnehmen: "Unter den 20 größten IT-Unternehmen der Welt ist nicht eines aus Europa", das müsse sich ändern. Denn die Wachstumschancen lägen in der digitalen Wirtschaft. Deshalb will er den grenzüberschreitenden Datenverkehr in der EU als fünfte Freiheit einführen. Und man müsse über die Zukunft der Arbeit und der ständigen Weiterbildung in einer zunehmend automatisierten Welt nachdenken. "Ein Schulkind von heute kann 65 Prozent der Fähigkeiten für seinen künftigen Beruf jetzt noch gar nicht lernen."

Und schließlich geht es um die Einführung einer europaweit einheitlichen Steuerbasis für die Digitalwirtschaft: Die vier großen EU-Länder Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien legen in Tallinn ein Grundsatzpapier dazu vor. Denn nur wenn die Firmen auch dort zahlen müssen, wo sie Geschäfte machen, können die Staaten künftig Einnahmen aus der Digitalwirtschaft erzielen. Im Europaparlament wird darüber hinaus eine EU-Digitalaufsicht zur Kontrolle und Regelung gefordert.

Vertrauen in den Staat

"Der Wandel in der Gesellschaft ist tiefgreifend, es ist eine neue Mentalität entstanden", sagt die estnische Präsidentin Kersti Kaljuaid. Man habe ein komplexes System von Sicherungen eingeführt, so dass jeder Bürger selbst die Kontrolle über seine Daten habe und immer sehen könne, ob eine Behörde sie eingesehen habe. Und Daten ohne Erlaubnis zu überprüfen sei ein kriminelles Delikt. 

Estland Präsidentin Kersti Kaljulaid
Estlands Präsidentin Kersti Kaljuaid glaubt nicht, dass Digitalisierung staatlichen Missbrauch von Daten begünstigtBild: Getty Images/AFP/T. Charlier

"Wir haben keine Probleme mit unseren digitalen Wahlunterlagen, das ist praktisch für alle Esten im Ausland", sagt die Präsidentin. Und alle könnten mit ihrer digitalen Unterschrift Geschäfte abwickeln. "Das müsste für die gesamte EU gelten, bisher erkennt nur Luxemburg unsere digitale Unterschrift an." Unter den Nachbarn seien nur Finnland und Dänemark noch ziemlich fortgeschritten beim e-government.

Die Gefahr möglichen staatlichen Missbrauchs aber weist Kersti Kaljuaid von sich: Ob die Staaten die Daten der Bürger auf Papier oder digital verwalteten, das mache doch keinen Unterschied. Sie räumt allerdings doch ein, dass für die digitale Rundum-Verwaltung eine Vertrauensbasis zwischen Bürgern und Staat bestehen müsse. Die Vision einer totalitären e-Verwaltung als Bedrohung für die Freiheit will sie nicht nachvollziehen.

Und sie wolle "die Kollegen hier nicht bekehren", wehrt Kaljuaid ab. Da sie aber beim Gipfel den Einführungsvortrag hält, liegt eine kleine Predigt über die Vorzüge des digitalen Staates doch relativ nahe.