1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Reise

Durch den Dschungel zur Oma der Bäume

Bianca Kopsch
4. Dezember 2019

Ein 900 Jahre alter Amazonas-Baum ist Ziel von Wanderungen durch den Regenwald vor Santarém in Nordbrasilien. Der Ökotourismus hilft ihn zu bewahren und das Naturschutzgebiet gegen die Abholzung rundherum zu sichern.

https://p.dw.com/p/3TN3f
Nordbrasilien Urwald bei Santarem
Bild: DW/B. Kopsch

"Sumaúma Vovó" - so heißt die Hauptattraktion im Urwald vor den Toren von Santarém im nordbrasilianischen Bundesstaat Pará. "Vovó" bedeutet "Oma", wie der mehr als 900 Jahre alte Kapokbaum, auch als Wollbaum bekannt, liebevoll genannt wird. Der Amazonas-Riese steht inmitten des Nationalparks Tapajós. Ein staatliches Naturschutzgebiet von fast 530.000 Hektar Größe, zu dessen Bewahrung Ökotourismus und nachhaltige Waldbewirtschaftung beitragen.

Eine Gruppe Touristik-Studenten ist aus dem rund 70 Kilometer entfernten Santarém angereist, um sich das anzuschauen. "Obwohl es so nah ist, war ich noch nie hier, wie die meisten Leute aus Santarém. Ich bin gespannt, die Natur kennenzulernen und zu erfahren, wie die Bewohner damit umgehen", erklärt der 25-jährige Leonildo Santos.

Ökotourismus statt Abholzung

Nordbrasilien - ein landwirtschaftlich genutztes Feld vor dem Regenwald bei Santarem
Der Ackerbau drängt den Urwald zurückBild: DW/B. Kopsch

Die Studenten sitzen im Urwalddorf Maguarí kurz hinter dem Eingang zum Schutzgebiet und warten auf ihre Waldführer. Ihre Fahrt hierher auf der neuen Bundesstraße BR-163 ging vorbei an großen Sojaplantagen, denen der Wald außerhalb der Reservatsgrenzen bereits weichen musste. Sie verbinden das ressourcenreiche Amazonasgebiet mit dem wirtschaftsstarken Süden des Landes und haben Abholzung und Landspekulation mit sich gebracht. Im gesamten Amazonasgebiet ist die Abholzung im vergangenen Jahr dramatisch angestiegen: zwischen August 2018 und Juli 2019 um fast 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum laut Satellitenmessungen des brasilianischen Weltrauminstituts INPE. Fast 10.000 Quadratkilometer Regenwald wurden demnach in dieser Zeit zerstört - soviel wie seit zehn Jahren nicht mehr. Dabei ist der Regenwald als riesiger CO2-Speicher von immenser Bedeutung für das Weltklima.

Nordbrasilien - Aussichtspunkt über dem Regenwalddach bei Santarem
Aussicht auf das gesamte Naturreservat bis hinunter zum Fluss TapajósBild: DW/B. Kopsch

Umweltschützer und indigene Gruppen werfen Brasiliens aktueller agrarfokussierter Rechtsregierung vor, ein Umfeld geschaffen zu haben, in dem sich Farmer, Holzfäller und Goldgräber zu immer weiteren Zerstörungen ermutigt fühlen. Präsident Bolsonaro hatte sich schon vor seiner Wahl im Oktober 2018 für eine Lockerung von Vorschriften zum Schutz von Naturreservaten und indigenen Territorien ausgesprochen, um durch deren Ausbeutung die Wirtschaft anzukurbeln. Seitdem sind die Schutzgebiete in erhöhter Alarmbereitschaft.

Vorzeigebeispiel für eine nachhaltige Nutzung

Der Tapajós-Regenwald gehört zu den ältesten Waldschutzgebieten des Landes. Und er ist bestens erforscht, was Flora, Fauna und nachhaltige Nutzung durch seine Bewohner betrifft. Etwa 4000 Menschen leben hier im und vom Wald. Genauso wie Reinildo Farias. Er ist hier geboren und hat gleich zwei Jobs direkt vor der Haustür: Einerseits arbeitet er in einer kleinen Anwohner-Kooperative, die in kontrolliertem Umfang zertifiziertes Holz an Sägewerke verkauft. Damit soll auch der illegalen Abholzung im größeren Stil vorgebeugt werden. Andererseits führt er seit 2005 Touristen durch seinen Wald und erklärt die Natur, in der er aufgewachsen ist. Nur Einheimische wie er dürfen hier als Führer arbeiten. "Seitdem hat sich unser Leben verbessert", sagt der 39-Jährige. "Wir haben dadurch einfach etwas mehr Geld und bauen nur noch auf kleinen Flächen für den Eigenbedarf an. So bleibt der Wald erhalten." Früher lebten sie hier hauptsächlich von der Landwirtschaft - und rodeten die dafür nötigen Waldflächen.

Nordbrasilien - Reiseleiter Reinildo Farias führt Touristen durch den Regenwald bei Santarem
Reinildo Farias führt Touristen durch den WaldBild: DW/B. Kopsch

Waldwanderung mit Naturkunde

Dann holt Reinildo seine Gruppe ab. Die etwa 20 Studenten werden auf drei Führer verteilt, damit auf den schmalen Urwaldpfaden alles ohne Komplikationen läuft. "Hier gibt es Schlangen, Skorpione und andere Gefahren, deswegen geht der Führer immer voraus", leitet er seine Gruppe an. Sieben Kilometer Wanderung durch dichten Regenwald. Ein strammer Marsch mit vielen Zwischenstopps. 

Nordbrasilien - Nahaufnahme eines Babassu-Palmensamen, der gerade aufgeschnitten wurde
Die Babassu-Palme trägt kleine Kokosnüsse. Aus ihrem Fruchtfleisch wird Speiseöl gemachtBild: DW/B. Kopsch

Auf dem Weg kommen sie an zahlreichen Medizinbäumen und Heilpflanzen vorbei: Jatobá und Sucuúba, deren Milch und Rindenextrakt gegen Krebs wirken sollen. Muira Puama, dessen Rindenpulver als "Viagra Amazoniens" gehandelt wird. Cumarú, dessen Kerne bei Lungenentzündung helfen soll. Der Chinarindenbaum, der zur Behandlung von Malaria genutzt wird. Andiroba, aus dessen Kerne ein Öl mit abschwellender Wirkung hergestellt wird. Und nicht zuletzt Babassu-Kokosnüsse, aus deren Fruchtfleisch Speiseöl gewonnen wird. "Außerdem findet man in den Kernen oft eine besondere Delikatesse: Larven. Sie schmecken nach Kokos", erklärt Reinildo. "Man kann sie entweder roh essen, dann sind sie zart und milchig. Oder man röstet sie schön kross." Einige der Studenten verziehen das Gesicht, als er ihnen vorkaut, aber alle sind beeindruckt. "Mich verblüfft das Wissen der einheimischen Waldführer", sagt die 27-jährige Mayra Santos anerkennend. "Und auch, wie gut sie uns das vermitteln."

Nordbrasilien, einheimischer Regenwaldbewohner isst eine Larve bei Santarem
Larven sind eine DelikatesseBild: DW/B. Kopsch

Stolzer Anblick: der 900-jährige Amazonas-Gigant

Nach dreieinhalb Stunden Wanderung taucht er plötzlich vor ihnen auf: der Rumpf der Sumaúma Vovó, der 900 Jahre alten Baumgroßmutter. Es braucht etwa 20 Menschen, um den riesigen Stamm zu umfassen. Die Krone verschwindet über der Urwalddecke. "Das ist das Beeindruckendste, was ich je gesehen habe!" staunt Leonildo. Die Bewunderung steht auch seinen Kommilitonen ins Gesicht geschrieben. "Wir sind so klein neben diesem riesigen Amazonien."

Nordbrasilien - Regenwald bei Santarem - vier Personen machen eine Wanderpause und essen einen Snack.
Kleine Verschnaufpause im UrwaldBild: DW/B. Kopsch

Der richtige Ort für ein Picknick. Auch für die anderen Wandergruppen, die so nach und nach aus dem Dickicht hier ankommen. Sowie ein deutsches Ehepaar aus der Nähe von Stuttgart. Der Hobbyfotograf ist begeistert von der biologischen Vielfalt. Zwei Tage verbringen er und seine Frau hier, inklusive Übernachtung bei einer einheimischen Familie im Urwalddorf. Die kostet in der Hängematte umgerechnet nur etwa fünf Euro pro Person. Für die Gastfamilie ein willkommener Nebenverdienst und für die Touristen eine einzigartige Erfahrung. "Wir wollen hier natürlich die Natur kennen lernen, aber auch die Einheimischen," sagt Berthold Echle. "Wir sind ganz angetan von der Gastfreundschaft." Seine Frau sitzt daneben und zeichnet währenddessen den fast tausendjährigen Amazonas-Giganten.

Nachhaltige Waldwirtschaft zum Mitnehmen: Gummisandalen, Honig, Heilöle

Der Rückweg geht dann schneller, denn jetzt werden weniger Erklärstopps eingelegt. Stattdessen treibt die Aussicht auf ein deftiges Mittagessen im Urwalddorf die Studentengruppe an.

Nordbrasilien, Nahaufnahme des Gummibaums, der gemolken wird
In der Regenzeit werden die Kautschukbäume jeden zweiten Tag durch Einschneiden der Rinde gemolkenBild: DW/B. Kopsch

Danach besichtigen sie noch die Latexgewinnung. Die Kautschukbäume stehen direkt im Dorf. In der amazonischen Regenzeit, also der ersten Jahreshälfte, werden sie jeden zweiten Morgen gemolken und dafür im Stamm eingeritzt. Die Gegend gehörte vor hundert Jahren zu den Zentren des Kautschukbooms im Amazonasgebiet. Heute ist das für die Anwohner nur noch eine kleine zusätzliche Einkommensquelle: Einerseits verkaufen sie den Rohstoff in den Südosten des Landes. Andererseits stellen sie Taschen, Sandalen und Accessoires daraus her, die sie dann im eigenen Laden vor dem Ausgang des Reservats anbieten. Hier gibt es auch andere Produkte aus eigener Herstellung: Honig, Fruchtmark, Heilöle, Möbel, Schmuck, Liköre - alles aus dem Wald. "Die Vielfalt im Urwald ist überwältigend! Hier lernt man, wo die Rohstoffe herkommen, aus denen Öle und Heilmittel gemacht werden, das ist total interessant!", zieht Student Leonildo sein Fazit. Und auch Führer Reinildo ist zufrieden: "Wir machen den Tourismus für Euch - und ihr helft uns dadurch!" Mit mehr als 42.000 großteils ausländischen Besuchern pro Jahr gehört der Nationalwald Tapajós zu den meistbesuchten Waldschutzgebieten Nordbrasiliens. Eine gute Vorbeugung gegen die umgreifende Zerstörung.

Nordbrasilien - hausgemachte Naturkautschuk-Handtaschen bei Santarem
Aus Kautschuk werden Sandalen und Taschen hergestelltBild: DW/B. Kopsch